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Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte

 

 

Vorwort Band 8/1 - 2017

IM HAUS DER WEISHEIT

Nach 25 Jahren hingebungsvoller Tätigkeit zog sich Anna Reuter, die Kustodin des Cusanus-Geburtshauses, im Jahre 2015 in das Privatleben zurück. Das Institut für Philosophie der Cusanus Hochschule und die Kueser Akademie nahmen das zum Anlass, im Herbst 2015 ihr zu Ehren eine internationale Tagung auszurichten: "Sapientia aedificvit sibi domum. Eine Philosophie des Ortes bei Nikolaus von Kues". Der vorliegende Band der Coincidentia versammelt damalige Vorträge zur 'Ankunft' der Weisheit, ergänzt durch Aufsätze, die das vom Cusanus-Geburtshaus ausgehende geistige Leben veranschaulichen. Am Anfang steht - nach einer Würdigung Anna Reuters durch Kirstin Zeyer - der Beitrag von Kazuhiko Yamaki, der das Wechselverhältnis von Ortsbindungen und Reisen des Cusanus betrachtet. Im Erleben des darin aufbrechenden Abgründigen sieht Yamaki den Keim des Concordantia-Gedankens und zugleich die 'absolute Gegenwart' des Cusanus, die mit Deutungen Nishidas zu vergleichen ist. Daran schließt Gianluca Cuozzo an mit seinen Überlegungen zum 'mystisch-utopischen Raum', die einen Bogen von Cusanus über Leonardo und Giordano Bruno bis hin zu Walter Benjamin aufspannen. Demgegenüber erörtert Wolfgang Christian Schneider einen konkreten Ort, den Cusanus besucht und erlebt hat: das 'Haus der Heiligen Weisheit' in Ostrom. Die für Cusanus' Zeit belegte eikona des Pantokrators im Kuppelrund der Hagia Sophia wird als auslösend für die Darlegungen in De visione Dei erschlossen. Michael Eckert stellt eine andere cusanische Schrift in den Mittelpunkt seines Beitrags: das Globusspiel. Im Nachgang zu Gadamer und Wittgenstein sucht er die metaphysische Spielidee herauszuarbeiten und das Spiel auf sein Lebens-, d.h. Wahrheitsverhältnis hin zu befragen. Matthias Vollet skizziert die konjekturalen Zugriffe mit Hilfe deren Nikolaus in seinen Werken in immer neuen Anläufen die Erkenntnismöglichkeit zu fassen sucht. Ganz im Sinne des Raumdenkens des Rinascimento nutzt Nicolaus bei deren Figurierung bevorzugt das Räumliche, sei es mit Blick auf die Bewegung des Denkens oder die mental-abstrakte Strukturiertheit der Erkenntnis, sei es in der konkreten Verortung der philosophischen Szene. Coban Menkveld behandelt danach die Schrift De pace fidei und würdigt - gegen Karl Jaspers - Cusanus' Ansatz, die Religionen wesentlich im Hinblick auf die Vermittlung von 'Wesensseite' und 'Erscheinungsseite', 'Einheit' und 'Vielheit' zu betrachten, die - über das Trinitarische - allein in der christlichen Religion angesprochen wird. Wenn im Anschluss daran Enrico Peroli die neuplatonische Linie in Cusanus' Denken verfolgt, so greift auch er auf De pace fidei zurück. Die Suche nach der una religio stellt sich ihm als Verlangen nach Vereinigung hin zum Göttlichen dar. Christian Ströbele setzt diese Linie fort, wenn er sich der Frage der Unmittelbarkeit oder Vermitteltheit beim Erleben des Göttlichen zuwendet. In Kenntnis von Eckhart aber auch im Gegensatz zu ihm, der eine Unmittelbarkeit für möglich hält, sieht Cusanus mit seinem abstrakten Raumdenken das Erleben des Göttlichen im Sinne eines Strebensvollzugs: als unabschließbare Annäherungsbewegung. Andrea Fiamma erörtert das von Falckenberg unter neukantianischen Blickwinkel gesehene Vorläufertum des Cusanus für Positionen der 'Moderne'. Wesentlich dafür ist vor allem die cusanische Erkenntnislehre. In deren einzelnen Aspekten sieht Falckenberg virtuell Grundansätze 'moderner' Philosophien, etwa der Leibniz' oder des deutschen Idealismus vorgezeichnet. Isabelle Mandrella bietet einen Überblick über theologisch-philosophische Lehren der weiblichen Laienphilosophie, in denen Frauen der ihnen seinerzeit nicht zugänglichen universitären Wissenschaft geistige Weisheitslehren entgegenstellen. Sie finden einen spezifischen 'Ort', der mit besonderen Begleiterscheinungen, Ausdrucksweisen des Sprechens, und Vermittlungsformen des Erkannten verbunden ist. Am Schluss berichtet Cecilia Rusconi über zwei reisende "Cusanus-Bibliotheken": die des Kardinals, die aus Rom nach Kues gelangte, und die des Cusanus-Forschers und langjährigen Direktors des Cusanus-Instituts Klaus Reinhardt, die nun einen 'Ort', ein 'Haus der Weisheit', für die Cusanus-Forschung in Argentinien bildet.

Wolfgang Christian Schneider

 

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