Aktuelles Heft

Band 14/2 – 2023

InTitelseite der Coincidentia: Interesse am rein Menschlichen. Band 14 Heft 2, 2023teresse am rein Menschlichen

 

herausgegen von

Harald Schwaetzer,

Kirstin Zeyer und

Johanna Hueck

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Johanna Hueck, Harald Schwaetzer, Kirstin Zeyer
  • Weltseele, Menschenseele, Schicksal.
    Theologie und Philosophie des Selbst im X. Buch der Nomoi
    Salvatore Lavecchia
  • Das Interesse am Schönen.
    Von der Antike bis zum frühen Mittelalter
    Johann Kreuzer
  • Adventus formae. ‚Ort‘ und ‚Bewegung‘ der Schönheit
    in Cusanus’ De genesi und Tota pulchra es
    Wolfgang Christian Schneider
  • Was sehen wir, wenn wir Gott in seinem Bilde sehen?
    Spekulative Untersuchung zu Cusanus: De visione dei
    Tilman Borsche
  • Erkenntnisse im Miteinander zu gewinnen.
    Mitgeschöpflichkeit in De visione Dei
    Kirstin Zeyer
  • Societät zur Förderung der reinen Menschlichkeit in Wahrheit
    und Schönheit. Zu Schillers Horen
    Harald Schwaetzer
  • Ein lebendiges, unteilbares Ganzes.
    Zum Menschenbild Samuel Hahnemanns
    Pilar Bücker

Buchbesprechungen

  • Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Beiträge aus „Allgemeine Zeit-
    schrift von Deutschen für Deutsche“ (1813). Ueber die Gottheiten von
    Samothrace (1815). Bericht über die Aeginetischen Bildwerke. Hg. v.
    Christopher Arnold / Christian Danz. Akademie-Ausgabe I.19.
    Stuttgart – Bad Canstatt 2023
    Harald Schwaetzer, Stuttgart
  • Jakovljević, Dragan: Das Selbstvertrauen der Vernunft und die
    Sokratische Methodik. Leonard Nelsons kritische Philosophie
    heute. Podgorica 2021
    Shafie Shokrani, Klagenfurt
  • Umezu, Tokihiko: Der sterbende Lindenbaum.
    Zu Franz Schuberts Winterreise. Regensburg 2023
    Peter Dellbrügger, Basel
  • Perkhams, Matthias: Grundriss. Philosophie in der Antike.
    Von den Vorsokratikern bis zur Schule von Nisibis.
    Hamburg 2023
    Harald Schwaetzer, Stuttgart

Vorschau auf das kommende Heft

Die Autoren

Vorwort

INTERESSE AM REIN MENSCHLICHEN

„Wie durch Monate und Jahre im Siebenerzyklus innerhalb und außerhalb des Mutterleibes alles im Menschen sich vollzieht“ (Cusanus in Sermo 170 n.2), so geht es auch der „Coincidentia“ auf ihre Weise: Zwei Jahrsiebte lang hat Wolfgang Christian Schneider die Zeitschrift gestaltet: mit Phantasie, mit Feinsinnigkeit, mit gedanklicher Genauigkeit und mit Schönheit. Mit dem vorliegenden zweiten Heft des 14. Jahrgangs vollzieht sich ein Wechsel, für dessen Kontinuität Kirstin Zeyer sorgt, während Johanna Hueck und Harald Schwaetzer Wolfgang Christian Schneider in der geschäftsführenden Herausgeberschaft nachfolgen, so dass die „Coincidentia“ nun zu dritt verantwortet wird.

Ein anderes Zahlenspiel liegt ebenso nahe: 27 Hefte, also 3³, eine seit der Antike gewichtige Zahl, deren Bedeutung das Christentum fortgeschrieben hat, sind von Wolfgang Christian Schneider gestaltet worden. Heft um Heft sind liebevoll und im sorgsamen Gespräch mit den Autoren entwickelt. Jenseits des Gedruckten zeigt sich darin eine sorgfältig gepflegte Kultur des akademischen Gesprächs, die ein hohes Gut der Vollendung darstellt. Deswegen beginnt die neue und vollendet sich die alte Ära mit einem Heft „Interesse am rein Menschlichen“, um auf diese Charakteristik in der Gestaltung der Zeitschrift hinzuweisen. Das Titelwort verdankt sich einer Formulierung Schillers aus den „Horen“, der im Beitrag von Harald Schwaetzer nachgegangen wird. Die besondere Konstellation derjenigen, die Schiller für eine Zusammenarbeit in den Horen zu gewinnen vermochte, ist ein eindrückliches Zeugnis für eine Mitschreibende und Gegenwart im Auge behaltenden soziale Wirksamkeit einer akademischen Zeitschrift über ein ‚Druckerzeugnis‘ hinaus.

Die Beiträge des vorliegenden Heftes entfalten in historischer Perspektive die systematischen Implikationen dieses ‚Interesses am rein Menschlichen‘. Salvatore Lavecchia wendet sich eingangs Platons Nomoi X zu. Dabei geht es ihm darum, die Konsequenzen der Einheit von Erkenntnis und Ethik bei Plato auszuloten. Wirkliches Erkennen und Denken ist zugleich eine Angelegenheit der Ethik, so Lavecchia; das „bedeutet schon an sich für das menschliche Selbst eine ethisch stimmige, und mithin fruchtbar transformative Performativität, die den Menschen nicht nur zu einer konkreten Erfahrung des Göttlichen, sondern auch, gerade durch diese Erfahrung, zu einer Verwirklichung sei es seines wahren Selbst sei es harmonischer sowie produktiver Verhältnisse in der Welt führt“.

Diese Gedankenwelt ist nicht nur in die ganze Antike eingebettet, sondern sie führt auch weiter bis ins Mittelalter, wie Johann Kreuzer zeigt. Dazu widmet er sich einem Überblick über die Frage des Schönen. Die Feststellung Adornos, dass ‚kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz wiederschiene‘, ist dabei für seine Überlegungen zentral – „und zwar nicht aus einem antiquarischen, vielmehr aus einem aufklärerischen, d.h. erfahrungsdiagnostischen Interesse heraus“, formuliert als ein „Maßstab und Anspruch, an den es gerade heute“ zu erinnern gilt.

Auf dieser Grundlage widmen sich die drei mittleren Beiträge dem Denken des Nikolaus von Kues. Wolfgang Christian Schneider hebt einerseits die Verwobenheit mit dem platonisch-neuplatonischen Gedankengut hervor, der Cusanus’ Denken auszeichnet. Anderseits zeigt er, wie Nikolaus diese Ideen produktiv in die Neuzeit hinein entfaltet, als einen „adventus formae“: „Als umfassendes principium ist Gott nicht weiter bestimmbar als reine essentia, in einer Verflechtung von Gutheit, Wahrheit und Schönheit. Als solche entziehen diese sich freilich jeder Wahrnehmung […]; sie werden jedoch erfassbar als Widerschein in der Form, in der forma, die durch ein spezifizierendes Ausfließen aus dem Principium in die Erscheinung tritt, aus der allgemeinen Potentialität verbesondert wird durch einen konstituierenden Hauch, spiritus.“

Tilman Borsche führt in seiner Meditation über De visione Dei diese Linie mit speziellerem Blick auf den Menschen fort. „Unter geeigneten Bedingungen betrachtet und gelesen, erweist sich das Bild als ein sichtbares Zeichen des Unsichtbaren, so der Anspruch des Senders. Aber das leistet das Bild nicht allein, so wenig wie das Wort allein es leisten könnte. Es ist das eigentümliche Zusammenspiel von diesem (genauer: einem derartigen) Bild zu dieser Zeit, an diesem Ort mit dem Text dieses Autors, geschrieben für diese Leser – und trotzdem und gerade in dieser Spezifität verbunden mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit“ – wiederum ein Anspruch, der bis ins „hier und heute“ reicht.

Als Gegenstück zum Verhältnis des Menschen zu Gott widmet sich Kirstin Zeyer demjenigen des Menschen zum Tier bei Cusanus. Ebenfalls im Rückbezug auf De visione Dei hält sie fest: „Ein verantwortlicher Umgang mit der Natur, verteilt auf viele Schultern, wäre hier in der Konsequenz gefordert. Gleichzeitig liegt in der bewegten Szene vor der Ikone aber noch ein anderes Moment beschlossen, das in Form der Vertrauensbildung der kommunikativen Situation vorausliegt. Wie wird Vertrauen gebildet? Spielend und kreisend.“

Der letzte Schritt des Heftes führt mit zwei Beiträgen in die Welt um und nach 1800. Harald Schwaetzer beleuchtet Schillers Unterfangen der Gründung der „Horen“ und analysiert dessen Gespräch mit Fichte und Goethe. Ihm geht es um die Deutung einer Aussage aus dem Vorwort der „Horen“: „Aber jemehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüther in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfniß, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freyheit zu setzen, und die politisch getheilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.“

Eine konsequente Weiterführung dieser Ideen und zugleich auch ein Rückgriff auf antike Ideen ist, was Samuel Hahnemanns Denken und Wirken auszeichnet. Diese Art des Interesses am rein Menschlichen untersucht Pilar Bücker. Sie zeigt, „dass Hahnemann den Menschen als einen lebendigen Organismus versteht und dass dieses Verständnis aus der Empirie heraus geboren ist.“ Damit redet der Begründer der modernen Homöopathie weder einer einseitigen, abstrakten Spekulation das Wort noch einer Empirie, wie sie das 19. Jahrhundert im weiteren Verlauf ausbilden wird. Auch für Hahnemann gilt, dass in der Platonischen Einheit von Erkenntnis und Ethik ein „adventus formae“ sich ereignet, der das Interesse am rein Menschlichen im Sinne Schillers zur Erscheinung zu bringen vermag.

Johanna Hueck, Harald Schwaetzer, Kirstin Zeyer