Über das Forschungsprojekt
In gemeinsamen Bemühungen gelang es dem „Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin“ und der „Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte“ 2016, den Nachlass Theodor Ziehens von der Familie für die Forschung übernehmen zu können. Das vorrangige Ziel ist, den Nachlass für die weitere Erforschung zugänglich zu machen, wobei die experimentalpsychologischen Praktiken Theodor Ziehens von ihren Anfängen her rekonstruiert und ihre Bedeutung in der Entwicklung der Psychiatrie aufgearbeitet werden sollen. Da diese Entwicklung in einem direkten engen Zusammenhang mit der Entstehung seines philosophischen Denkens und vor allem seiner Erkenntnistheorie zu verstehen ist, sollen anhand der im Nachlass enthalten handschriftlichen Entwürfe und Manuskripte diese gegenseitigen Abhängigkeiten untersucht werden.
Theodor Ziehen
Theodor Ziehen wurde 1862 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte in Würzburg und Berlin Medizin und wurde 1885 zum Dr. med. in Psychiatrie promoviert. Zunächst ging er für ein Jahr als Volontärarzt nach Görlitz in eine Privatirrenanstalt unter Leitung von Karl Ludwig Kahlbaum (1828-1899). Einer Einladung Otto Binswangers (1852-1912) folgend, zu ihm nach Jena als Oberarzt an seine Klinik zu kommen und sich zu habilitieren, reiste Ziehen im Mai 1886 nach Jena. Ziehen habilitierte sich 1887 mit der Arbeit „Sphygmographische Untersuchungen an Geisteskranken“. Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), der in Turin zusammengebrochen war, wurde am 18, Januar 1889 in Jena eingeliefert. Seine Krankenakte wurde von Binswanger, in wesentlichen Teilen aber von Ziehen geführt. Im Sommer 1900 erhielt Ziehen einen Ruf als Ordinarius der Psychiatrie nach Utrecht. Im Jahr 1903 folgte Ziehen zunächst einem Ruf als Ordinarius der Psychiatrie und Nervenheilkunde nach Halle, um schon im Sommer 1904 als Ordinarius für Psychiatrie an die Charité nach Berlin zu gehen.
weiterlesenZiehen, heute als Arzt Friedrich Nietzsches und Vorgesetzter Gottfried Benns bekannt, zählte zu einer Gruppe progressiver, an der experimentellen Psychologie orientierter klinischer Psychiater. Aufgrund seiner Kritik an der „Apperzeptionstheorie“ wurde Ziehen als Gegenspieler Wilhelm Wundts gehandelt. In seiner Antrittsvorlesung proklamierte er den Anbruch eines neuen experimentalpsychologischen Zeitalters. Er betonte, die Reformierung der klinischen Psychiatrie auf Grundlage der „physiologischen Psychologie“ lasse sich nicht von ihrer praktischen Umsetzung abtrennen. Es folgte die bereits von seinem Vorgänger Friedrich Jolly geplante Einrichtung eines psychologischen Laboratoriums. Von besonderem Interesse ist, dass Ziehen ein ausformuliertes assoziations-psychologisches System mit nach Berlin brachte und es innerhalb weniger Wochen nach Amtsantritt in Praxis umsetzte.
1911 ließ Ziehen sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen, kaufte in Wiesbaden eine kleine Villa, und zog im März 1912 dorthin, um sich ganz der Philosophie zu widmen. Schon nach einem Jahr intensiver Arbeit konnte Ziehen 1913 seine „Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage“ herausgeben. In Weiterentwicklung seiner Gedanken seit 1898 setzt er sich hier noch stärker von Kants „Ding an sich“ oder Lockes „objects themselves“ ab, weil er den Gegensatz von „psychisch“ und „physisch“ für grundsätzlich falsch gebildet hält. Da sich Ziehen darüber klar war, daß dieses umfangreiche Werk nicht ganz leicht zu lesen war – zumal er eine recht eigenwillige Terminologie entwickelte -, arbeitete er noch einen Vortrag aus, der 1914 unter dem Titel „Zum gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie“ veröffentlichte. Daneben arbeitete er an seinen Grundlagen der Psychologie, die 1915 erschienen.
Auf einen Ruf nach Halle zieht Ziehen im September 1917 dorthin. Hier beschäftigte er sich, nach dem Abschluß der „Logik“, wieder intensiver mit der Naturphilosophie und der Ästhetik. So erschienen 1922 das Werk „Grundlage der Naturphilosophie“ und 1923 und 1925 die zwei Bände „Vorlesungen über Ästhetik“. Zu seinen psychologischen Arbeiten dieser Zeit gehören kleine Schrift „Die Beziehungen der Lebenserscheinungen zum Bewußtsein“ (1921) und das mit den Vererbungstheoretiker V. Haecker 1923 in Leipzig herausgegebene Werk „Zur Vererbung und Entwicklung der musikalischen Begabung“.
Nach seiner Emeritierung in Halle im Jahre 1930 siedelte Ziehen mit seiner Frau und seinem behinderten Sohn Siegfried wieder in die Nähe seiner Heimatstadt, nach Wiesbaden. Dort starb Theodor Ziehen am 29.12.1950.
Arbeitsschwerpunkte der Forschungsarbeiten:
- Den Bereich der medizinhistorischen und -theoretischen Forschung und deren Publikationen, einschließlich der Vergabe und Betreuung von Magister- oder Promotionsarbeiten, bearbeitet das Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin.
- Die Erforschung, Herausgabe und Bearbeitung philosophischer und philosophiegeschichtlicher Werke Ziehens und darauf bezogener Publikationen bearbeitet die Kueser Akademie.
Vorträge und Publikationen
Theodor Ziehens psychologisches Experimentalsystem
19. Juni 2017: Kolloquium des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin
Einladung und Programm (PDF)
Kontakt in der Kueser Akademie:
August Herbst, wissenschaftlicher Mitarbeiter
august.herbst∂kueser-akademie.de