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Band 14/2 – 2023

InTitelseite der Coincidentia: Interesse am rein Menschlichen. Band 14 Heft 2, 2023teresse am rein Menschlichen

 

herausgegen von

Harald Schwaetzer,

Kirstin Zeyer und

Johanna Hueck

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Johanna Hueck, Harald Schwaetzer, Kirstin Zeyer
  • Weltseele, Menschenseele, Schicksal.
    Theologie und Philosophie des Selbst im X. Buch der Nomoi
    Salvatore Lavecchia
  • Das Interesse am Schönen.
    Von der Antike bis zum frühen Mittelalter
    Johann Kreuzer
  • Adventus formae. ‚Ort‘ und ‚Bewegung‘ der Schönheit
    in Cusanus’ De genesi und Tota pulchra es
    Wolfgang Christian Schneider
  • Was sehen wir, wenn wir Gott in seinem Bilde sehen?
    Spekulative Untersuchung zu Cusanus: De visione dei
    Tilman Borsche
  • Erkenntnisse im Miteinander zu gewinnen.
    Mitgeschöpflichkeit in De visione Dei
    Kirstin Zeyer
  • Societät zur Förderung der reinen Menschlichkeit in Wahrheit
    und Schönheit. Zu Schillers Horen
    Harald Schwaetzer
  • Ein lebendiges, unteilbares Ganzes.
    Zum Menschenbild Samuel Hahnemanns
    Pilar Bücker

Buchbesprechungen

  • Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Beiträge aus „Allgemeine Zeit-
    schrift von Deutschen für Deutsche“ (1813). Ueber die Gottheiten von
    Samothrace (1815). Bericht über die Aeginetischen Bildwerke. Hg. v.
    Christopher Arnold / Christian Danz. Akademie-Ausgabe I.19.
    Stuttgart – Bad Canstatt 2023
    Harald Schwaetzer, Stuttgart
  • Jakovljević, Dragan: Das Selbstvertrauen der Vernunft und die
    Sokratische Methodik. Leonard Nelsons kritische Philosophie
    heute. Podgorica 2021
    Shafie Shokrani, Klagenfurt
  • Umezu, Tokihiko: Der sterbende Lindenbaum.
    Zu Franz Schuberts Winterreise. Regensburg 2023
    Peter Dellbrügger, Basel
  • Perkhams, Matthias: Grundriss. Philosophie in der Antike.
    Von den Vorsokratikern bis zur Schule von Nisibis.
    Hamburg 2023
    Harald Schwaetzer, Stuttgart

Vorschau auf das kommende Heft

Die Autoren

Vorwort

INTERESSE AM REIN MENSCHLICHEN

„Wie durch Monate und Jahre im Siebenerzyklus innerhalb und außerhalb des Mutterleibes alles im Menschen sich vollzieht“ (Cusanus in Sermo 170 n.2), so geht es auch der „Coincidentia“ auf ihre Weise: Zwei Jahrsiebte lang hat Wolfgang Christian Schneider die Zeitschrift gestaltet: mit Phantasie, mit Feinsinnigkeit, mit gedanklicher Genauigkeit und mit Schönheit. Mit dem vorliegenden zweiten Heft des 14. Jahrgangs vollzieht sich ein Wechsel, für dessen Kontinuität Kirstin Zeyer sorgt, während Johanna Hueck und Harald Schwaetzer Wolfgang Christian Schneider in der geschäftsführenden Herausgeberschaft nachfolgen, so dass die „Coincidentia“ nun zu dritt verantwortet wird.

Ein anderes Zahlenspiel liegt ebenso nahe: 27 Hefte, also 3³, eine seit der Antike gewichtige Zahl, deren Bedeutung das Christentum fortgeschrieben hat, sind von Wolfgang Christian Schneider gestaltet worden. Heft um Heft sind liebevoll und im sorgsamen Gespräch mit den Autoren entwickelt. Jenseits des Gedruckten zeigt sich darin eine sorgfältig gepflegte Kultur des akademischen Gesprächs, die ein hohes Gut der Vollendung darstellt. Deswegen beginnt die neue und vollendet sich die alte Ära mit einem Heft „Interesse am rein Menschlichen“, um auf diese Charakteristik in der Gestaltung der Zeitschrift hinzuweisen. Das Titelwort verdankt sich einer Formulierung Schillers aus den „Horen“, der im Beitrag von Harald Schwaetzer nachgegangen wird. Die besondere Konstellation derjenigen, die Schiller für eine Zusammenarbeit in den Horen zu gewinnen vermochte, ist ein eindrückliches Zeugnis für eine Mitschreibende und Gegenwart im Auge behaltenden soziale Wirksamkeit einer akademischen Zeitschrift über ein ‚Druckerzeugnis‘ hinaus.

Die Beiträge des vorliegenden Heftes entfalten in historischer Perspektive die systematischen Implikationen dieses ‚Interesses am rein Menschlichen‘. Salvatore Lavecchia wendet sich eingangs Platons Nomoi X zu. Dabei geht es ihm darum, die Konsequenzen der Einheit von Erkenntnis und Ethik bei Plato auszuloten. Wirkliches Erkennen und Denken ist zugleich eine Angelegenheit der Ethik, so Lavecchia; das „bedeutet schon an sich für das menschliche Selbst eine ethisch stimmige, und mithin fruchtbar transformative Performativität, die den Menschen nicht nur zu einer konkreten Erfahrung des Göttlichen, sondern auch, gerade durch diese Erfahrung, zu einer Verwirklichung sei es seines wahren Selbst sei es harmonischer sowie produktiver Verhältnisse in der Welt führt“.

Diese Gedankenwelt ist nicht nur in die ganze Antike eingebettet, sondern sie führt auch weiter bis ins Mittelalter, wie Johann Kreuzer zeigt. Dazu widmet er sich einem Überblick über die Frage des Schönen. Die Feststellung Adornos, dass ‚kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz wiederschiene‘, ist dabei für seine Überlegungen zentral – „und zwar nicht aus einem antiquarischen, vielmehr aus einem aufklärerischen, d.h. erfahrungsdiagnostischen Interesse heraus“, formuliert als ein „Maßstab und Anspruch, an den es gerade heute“ zu erinnern gilt.

Auf dieser Grundlage widmen sich die drei mittleren Beiträge dem Denken des Nikolaus von Kues. Wolfgang Christian Schneider hebt einerseits die Verwobenheit mit dem platonisch-neuplatonischen Gedankengut hervor, der Cusanus’ Denken auszeichnet. Anderseits zeigt er, wie Nikolaus diese Ideen produktiv in die Neuzeit hinein entfaltet, als einen „adventus formae“: „Als umfassendes principium ist Gott nicht weiter bestimmbar als reine essentia, in einer Verflechtung von Gutheit, Wahrheit und Schönheit. Als solche entziehen diese sich freilich jeder Wahrnehmung […]; sie werden jedoch erfassbar als Widerschein in der Form, in der forma, die durch ein spezifizierendes Ausfließen aus dem Principium in die Erscheinung tritt, aus der allgemeinen Potentialität verbesondert wird durch einen konstituierenden Hauch, spiritus.“

Tilman Borsche führt in seiner Meditation über De visione Dei diese Linie mit speziellerem Blick auf den Menschen fort. „Unter geeigneten Bedingungen betrachtet und gelesen, erweist sich das Bild als ein sichtbares Zeichen des Unsichtbaren, so der Anspruch des Senders. Aber das leistet das Bild nicht allein, so wenig wie das Wort allein es leisten könnte. Es ist das eigentümliche Zusammenspiel von diesem (genauer: einem derartigen) Bild zu dieser Zeit, an diesem Ort mit dem Text dieses Autors, geschrieben für diese Leser – und trotzdem und gerade in dieser Spezifität verbunden mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit“ – wiederum ein Anspruch, der bis ins „hier und heute“ reicht.

Als Gegenstück zum Verhältnis des Menschen zu Gott widmet sich Kirstin Zeyer demjenigen des Menschen zum Tier bei Cusanus. Ebenfalls im Rückbezug auf De visione Dei hält sie fest: „Ein verantwortlicher Umgang mit der Natur, verteilt auf viele Schultern, wäre hier in der Konsequenz gefordert. Gleichzeitig liegt in der bewegten Szene vor der Ikone aber noch ein anderes Moment beschlossen, das in Form der Vertrauensbildung der kommunikativen Situation vorausliegt. Wie wird Vertrauen gebildet? Spielend und kreisend.“

Der letzte Schritt des Heftes führt mit zwei Beiträgen in die Welt um und nach 1800. Harald Schwaetzer beleuchtet Schillers Unterfangen der Gründung der „Horen“ und analysiert dessen Gespräch mit Fichte und Goethe. Ihm geht es um die Deutung einer Aussage aus dem Vorwort der „Horen“: „Aber jemehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüther in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfniß, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freyheit zu setzen, und die politisch getheilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.“

Eine konsequente Weiterführung dieser Ideen und zugleich auch ein Rückgriff auf antike Ideen ist, was Samuel Hahnemanns Denken und Wirken auszeichnet. Diese Art des Interesses am rein Menschlichen untersucht Pilar Bücker. Sie zeigt, „dass Hahnemann den Menschen als einen lebendigen Organismus versteht und dass dieses Verständnis aus der Empirie heraus geboren ist.“ Damit redet der Begründer der modernen Homöopathie weder einer einseitigen, abstrakten Spekulation das Wort noch einer Empirie, wie sie das 19. Jahrhundert im weiteren Verlauf ausbilden wird. Auch für Hahnemann gilt, dass in der Platonischen Einheit von Erkenntnis und Ethik ein „adventus formae“ sich ereignet, der das Interesse am rein Menschlichen im Sinne Schillers zur Erscheinung zu bringen vermag.

Johanna Hueck, Harald Schwaetzer, Kirstin Zeyer

 


 

Band 14/1 – 2023

Kosmopolitismus

herausgegen von

Wolfgang Christian Schneider

und Kirstin Zeyer

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Der Gedanke der Kosmopolitie in der Antike
    und sein Fortwirken bei Wieland
    Wolfgang Christian Schneider
  • Kosmopolitismus: Herder im kritischen Diskurs
    mit Rousseau und Wieland
    Tilman Borsche
  • Denken für das Fremde. Der Kosmopolitismus
    von Wieland und Kant
    Ri SUGA
  • Goethes Kosmopolitismus
    Harald Schwaetzer
  • Der „poëtische Staat“ und die „Weltrepublik“. Zur Konzeption
    des frühromantischen Kosmopolitismus
    Yu TAKAHASHI
  • Die Idee der „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ im Zeitalter
    der „Weltliteratur“. Zu einer Denkfigur des literarischen
    Kosmopolitismus im 19. Jahrhundert
    Takahiro NISHIO
  • Hannah Arendt und der Kosmopolitismus:
    Grenzen und Möglichkeiten
    Yotetsu TONAKI

Buchbesprechungen

  • Alanus ab Insulis und das europäische Mittelalter. Hg. v. Frank
    Bezner / Beate Kellner. Unter Mitarbeit von M. Butz /
    A. Urban. Paderborn 2022
    Harald Schwaetzer
  • Hueck, Johanna: Aktive Passivität. Krisis und Selbsttransformation
    der Subjektivität im Denken F.W.J. Schellings. Beiträge
    zur Schelling-Forschung (Band 13). Freiburg 2022
    Nadja Görz
  • Charles de Bovelles, philosophe et pédagogue. Suivi de l‘ Opuscule
    métaphysique de Charles de Bovelles (1504). Sous la direction
    de Anne-Hélène Klinger-Dollé et Emmanuel Faye. Paris 2021
    Harald Schwaetzer

Vorschau auf das kommende Heft

Die Autoren

Vorwort

KOSMOPOLITISMUS

Immer mehr Erscheinungen lassen die weltweiten Verflechtungen und Wechselwirkungen gesellschaftlicher und politischer Geschehnisse, wirtschaftlicher und natürlicher Prozesse spürbar werden. Das macht eine Neubewertung des Bezugsrahmens, in dem das menschliche Handeln sich versteht, notwendig. Damit rückt die Frage in den Blick, inwiefern der Einzelne über seine lokalen, regionalen oder nationalen Bezüge hinaus auch durch einen globalen Bezug, eine weltumspannende Verantwortung bestimmt ist und sein sollte. In einer solchen Neubesinnung kommt dem Begriff des Kosmopolitischen eine tragende Rolle zu, dem dieser Band der Coincidentia gewidmet ist. Die Beiträge gehen auf zwei örtlich weit auseinanderliegende, inhaltlich gleichwohl verschwisterte Veranstaltungen in Deutschland und Japan im Jahre 2021 zurück: einerseits auf eine Vorlesungsreihe zum „Kosmopolitismus“ an der Hochschule in Biberach, der Geburtsstadt des Philosophen und Dichters Christoph Martin Wieland, der als Vorkämpfer des Gedankens der Kosmopolitie in der Aufklärungszeit gelten kann; andererseits auf das Symposium „Kosmopolitische Narrative“ der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. Freundschaftliche wissenschaftliche Beziehungen ermöglichte nun ein Zusammenwirken, eine gemeinschaftliche Veröffentlichung der wichtigsten Beiträge beider Veranstaltungen zum Kosmopolitismus. Eröffnet wird die Folge mit einem Blick auf die Antike, in der der Begriff der Kosmopolitie wurzelt. Es ist die philosophische Reflexion über die Vergesellschaftung in den Stadtgemeinden des frühklassischen Griechenland, die dem ausschließlichen Bezug auf die je eigene Stadtgemeinde einen der Gesamtheit des Lebens verpflichteten Bezug entgegenstellt: einen Bezug zum Kosmos. Dieses Denken bleibt, wie W. Ch. Schneider darlegt, wirksam und wird selbst im politischen Handeln aufgegriffen. Aus diesen literarisch ermittelten Impulsen entwickelt Wieland in der Zeit der Aufklärung seine Auffassung eines ethisch begründeten Kosmopolitismus, den er in literarischen Werken und in politisch-gesellschaftlichen Schriften vorstellt. Weitere, in die menschliche Bildung und insbesondere die nun thematisierte staatspolitische Bildung hineinreichende Anstöße tragen Rousseau und Herder bei, wie T. Borsche herausarbeitet, wobei das Kosmopolitische in eine Spannung zum Patriotischen gerät. Dem folgt R. Suga, die den unzweifelhaft ebenso philosophischen wie politischen Gehalt von Wielands Dichtung in seinem inneren Zusammenhang mit dem kosmopolitischen Denken Kants erläutert und von da aus die weiteren Entwicklungen skizziert. Des politischen Gehalts bewusst lenkt H. Schwaetzer den Blick auf das letztlich tragende Ganze, den das Verstehen herausfordernden Kosmos, in dem jedes Handeln steht, es trägt und verpflichtet. Eine vertiefte Erfassung des Politischen im Kosmopolitischen weist Y. Takahashi an Hand der Auseinandersetzungen der Frühromantiker mit Kant auf. Das Poetisch-Ästhetische gilt den Romantikern als unmittelbar politisch und verbindet sich daher mit dem Staatsbürgerlichen. Vielleicht ist sogar die Wende zum religiösen bei mehreren der Frühromantiker nicht so sehr als das Ende des Kosmopolitischen zu verstehen, sondern als dessen Verschiebung in das Geistige. Mit T. Nishio richtet sich der Blick in das 19. Jh., vor allem auf das ‚Junge Deutschland‘ und Berthold Auerbach, er behandelt die Frage einer ‚kosmopolitisch‘ aufgefassten ‚Weltliteratur‘ beispielhaft im Hinblick darauf, welcher Stellenwert dem je besonderen Literarischen im Rahmen von „Einheit in der Vielheit“ zukommen kann – eine Frage, die noch immer von Bedeutung ist. Daran knüpft Y. Tonaki an, der für die Judenheit in Europa zu Ende des 19. Jh. und im frühen 20.Jh., jüdischen Selbstaussagen folgend, eine kosmopolitische Phase beschreibt, in der die geistig und literarisch Tätigen sich fruchtbar zwischen den nationalen Kulturen und Literaturen, also gleichsam kosmopolitisch, bewegen konnten, gerade weil sie keinen nationalen Bezug hatten. Das beendeten die antisemitischen Aktionen, was Hannah Arendt dazu führt, beständig das Zeitgeschichtliche begleitend, für die Judenheit einen Ort zu suchen, eine jüdische Identität zu entwickeln, die jenseits des Religiös-Nationalen stünde und Kosmopolitisches wahrte. Von seiner Geschichte her muss Kosmopolitismus – und jede Berufung darauf – immer ethisch gegründet sein.

Wolfgang Christian Schneider

 

 


Band 13/2 – 2022

Spuren im Dazwischen

Teitelseite Cioncidentia 13-2022-2

herausgegeben von

Wolfgang Christian Schneider

und Kirstin Zeyer

 

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Anaxagoras oder Das unendliche Dazwischen
    Claus-Artur Scheier
  • Aer und Pneuma im Weltganzen und im Menschen.
    Das Fortleben der griechischen Naturphilosophie bei
    Hippokratikern und stoa-nahen Medizinern
    Wolfgang Christian Schneider
  • Das mystische Nichtwissen als Schule des Denkens
    Inigo Bocken
  • Auflösung des Theodizeeproblems durch den Pantheismus?
    Kritische Betrachtung von Norbert Hoersters
    neu vorgelegter Konzeption
    Dagan Jakovljević
  • Das Absolute in der Reflexion
    Martin Bunte„Die Natur allein ist das wahre Gegengift der Abstraktion“:
    Schellings Naturphilosophie als Kritik an
    wirklichkeitsfremder ‚Schwärmerei‘
    Andrés Quero-Sánchez
  • Cornelis Verhoeven (1928-2001): ein unzeitgemäßer
    Meister aus Brabant
    Joop Berding
  • Geschriebene und gezeichnete Blicke.
    Die text-bild-künstlerischen „Bildmappen“ von
    Christoph Meckel
    Adela Sophia Sabban

Buchbesprechungen

  • Heinrich Theodor Grütter / Rosa Schmitt-Neubauer / Christoph
    Schurian / Johannes Stüttgen / Joachim Weber / Carla Zimmer-
    mann (Hg.): Die Unsichtbare Skulptur. Der Erweiterte Kunstbegriff
    nach Joseph Beuys. Katalog zur Ausstellung im UNESCO-Welterbe
    Zollverein, Essen 2021. Köln 2021
    Stephan Stockmar
  • Alf Christophersen: Die Kunst des Unsichtbaren. Ethik – Beuys –
    Ästhetik. München 2021
    Stephan Stockmar
  • Paulus Ricius: Schriften zur christlichen Kabbala. Band I. Sal foederis
    (1507 / 1511 / 1514 / 1541), Clavis Philosophiae 11,1. Kritisch hg.
    und übersetzt von Frank Böhling. Mit einer Einleitung versehen von
    Frank Böhling und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Stuttgart-Bad
    Cannstatt 2022
    Wolfgang Christian Schneider
  • Johann Valentin Andreae: Civis Christianus, sive Peregrini quondam
    errantis restitutiones (1619). Bearbeitet, übersetzt und kommentiert
    von Frank Böhling. Mit einer Einleitung von Wilhelm Schmidt-
    Biggemann. Johann Valentin Andreae: Gesammelte Schriften. Hg.
    von Frank Böhling / Bernd Roling / Wilhelm Schmidt-Biggemann.
    Band 12. Stuttgart-Bad Cannstatt 2022
    Harald Schwaetzer
  • Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Darlegung des wahren Ver-
    hältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichte’schen Lehre.
    Ueber das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur. Kleinere
    Schriften (1806-1807). Hg. v. Ives Radrizziani. Akademie-Ausgabe
    I.16,1. Stuttgart – Bad Canstatt 2022
    Harald Schwaetzer
  • Susanne Möbuß: Neue Überlegungen zur Existenzphilosophie.
    Anschlüsse an Barth, Jaspers und Heidegger. Basel 2021
    Johanna Hueck

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

SPUREN IM DAZWISCHEN

Umringt sind wir von Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten, Doppelgesichtigkeiten, zugleich in vielfältiger Weise von einem „Teils – Teils“, „Sowohl als auch“, „So und doch auch Anders“; wir stehen in Spannungsräumen, in Widersprüchen, suchend nach einem hinlänglich Festhaltbaren, das uns klarer Begriff werden könnte. Dabei spüren und erfahren wir doch immer, wie viel wir auch auf der jeweils anderen Seite leben, von dort her sind. So öffnet sich uns ein Dazwischen, das wir anerkennen sollten, weil es Wichtiges wahrt, zu erkennen gibt. In diesem Band versammeln sich Beiträge, die auf die je eigene Weise vom Dazwischen sprechen. Am Anfang erläutert C.-A. Scheier das Bemühen von Anaxagoras, die unendlich-vielen Seienden in ihrer Verschiedenheit als einander durchdringend, aneinander partizipierend zu beschreiben, was ihn letztlich zur Konzeption einer aktualen Unendlichkeit führt. Vor ihr kommt dann das Einzelne in den Blick, der Mensch ebenso wie das Handgreiflich-Brauchbare, das den Menschen umgibt. W.Ch. Schneider blickt dann darauf, wie die von der frühen Naturphilosophie angenommene das Weltganze durchziehende ‚Luft‘ (aēr), später als ‚Pneuma‘ verstanden, als fortdauernd auch das Einzelne durchziehend gedacht wird. Das gibt
der Medizin Anlass, die Wege von Luft und Pneuma im Inneren des Menschen zu verfolgen, der wesentlich dadurch am Weltganzen teilhat, womit, in stoischer Sicht, das Ganze im Einzelnen wirklich wird. Das Dazwischen im Spekulativ-Theologischen verfolgt I. Bocken, er sieht das mystische Nichtwissen als Schule des Denkens, wofür beispielhaft Cusanus und de Certeau aufgerufen werden. Im eigenen Nichtwissen und in der Unerreichbarkeit des Gegenübers tritt überbrückend die Wechselseitigkeit hervor. Das unerfüllte Verlangen nach dem Ungreifbar-Göttlichen stellt sich für den Betrachtenden als Wechselseitigkeit dar, in dem der ‚Sehnsüchtige‘ eine Art von Wissen erfährt, wofür er den Raum offen halten möchte. Einem geradezu klassischen Problem des Dazwischen widmet sich D. Jakovljević, der eine unlängst vorgetragene pantheistisch-atheistische Lösung der Theodizee-Frage als fragwürdig nachweist. Bei diesem Vorschlag bleibt das Problem bestehen, es wird lediglich verschoben. Gleichsam komplementär dazu erörtert M. Bunte den Spannungsraum zwischen dem Absoluten als dem unendlichen Grund und dem Menschen als endliches Vernunftwesen mit seiner Reflexion. Das einzelne Bewusstsein, das eigene Ich, wird in dieser Sicht als Erscheinung des Absoluten, also des rein aus sich Seienden vorgestellt. Die Wahrheit des Absoluten ist dabei die der Differenz und Identität seines In-sich-Seins und seiner Erscheinung als sein Aus-sich-Sein. Im Anschluss daran behandelt A. Quero-Sánchez das bei Schelling bestehende Spannungsverhältnis zwischen mystisch-spekulativen Traditionen und einer Naturphilosophie, die von beseelter Materie bestimmt ist, von woher auch Individualität und Existenz zu denken ist. Der reife und authentische Einzelne ist demgemäß (im Gegensatz zu dem wiederholt angesprochenen „Schwärmer“) dadurch gekennzeichnet, dass er nach dem Gesetz seiner Identität, kraft der Notwendigkeit seines Wesens handelt. Die Linie der Individualität zieht J. Berding bei seiner Vorstellung der auf die Praxis zielenden Philosophie Verhoevens aus, wenn er die „Selbstgestaltung“ des Einzelnen als deren Mittelpunkt beschreibt. Damit wendet er sich gegen die eingerasteten Selbstverständlichkeiten im Geistigen und Religiösen sowie die Nutzungsansprüche der Gesellschaft an die Heranwachsenden. Zuletzt verfolgt A. S. Sabban das Dazwischen als Ineinander von Sprechen im Text und Formen im Bildlichen in den bildtextlichen Gestaltungen des Dichters und Zeichners Christoph Meckel. In ihnen erspielt sich der kreativ Schaffende seine Wirklichkeit, sein Leben, vor und mit dem ihn Umgebenden – und vergegenwärtigt sich so dem Wahrnehmenden. Gerade das Dazwischen, offen und bewußt angenommen, ist fruchtbar, es erweist zunächst geschieden erscheinende Sinn- oder Erlebenszusammenhänge als gleicherweise tragend und so weiterführend, gibt zuletzt auch im Einzelnen Unerwartetes, Neues zu erkennen.

Wolfgang Christian Schneider

 

 


 

Band 13/1 – 2022

Blicke ins Kommende

herausgegeben von
Wolfgang Christian Schneider
und Kirstin Zeyer

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Die Absicht der Vernunft.
    Der Gebrauch von Begriffen in praktischer Absicht bei Kant
    Nico Graack
  • Begegnungen in Prag.
    Auf der Suche nach der großen Erzählung von Europa
    Stefan Waanders
  • Staatsbürgerschaft der Zukunft.
    Identität als Faktizität und Aufgabe
    Donald Loose
  • Ernst Robert Curtius (1886-1956): Ein Erbe der ‚Kultursynthese
    des Europäismus‘ von Ernst Troeltsch (1865-1923)?
    Bérénice Palaric
  • Zwiegespräch im Ich.
    Die Bedeutung des nicht-spezialisierten Denkens
    Johanna Hueck
  • Die Beweinung der Zukunft?
    Günther Anders’ Moralische Phantasie im Anthropozän
    Fabian Warislohner
  • Versuch eines bioethischen Imperativs.
    Das Leben als Aufgabe und Grenze praktischer Vernunft
    Martin Bunte
  • Die Stille der Natur: Das Ambivalente Wechselverhältnis
    von Natur, Mensch und Technik im Anthropozän
    Philipp Höfele
  • Schweifende Dichotomien in der weltumspannenden
    Mediengesellschaft. Die kulturellen Formate auf der
    Grenze zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion
    Hans Friesen

Buchbesprechungen

  • Corinna Schubert: Masken denken – in Masken denken:
    Figur und Fiktion bei Friedrich Nietzsche. Bielefeld 2020
    Osman Choque-Aliaga
  • Nils Höppner / Klaus Feldmann (Hg.): Wie über Natur reden?
    Philosophische Zugänge zum Naturverständnis im
    21. Jahrhundert. Freiburg 2020
    Fabian Warislohner
  • Umezu, Tokihiko: Symbole als Wegweiser in Franz Schuberts
    „Winterreise“. Aus dem Japanischen übersetzt von Erika
    Herzog. Regensburg 2019
    Peter Dellbrügger

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

BLICKE INS KOMMENDE

Umstellt sind wir von Zukünften, trägt doch jede Gegenwart in sich die Wurzeln alles Kommenden, das im Jetzt schon steckt. Selbst in den konkreten kleinen Vollzügen im Alltäglichen geschieht immer auch Zukunft: In Bejahung und Widerspruch, in Fortentwicklung und Verkürzung, Abweichung und Verschiebungen entwickelt und gestaltet der Mensch sein je besonderes Dafürhalten hinsichtlich eines Fortkommens – antwortend auf Wollen und Vorhaben im ihn Umgebenden. Jedes Mit- und Zueinander verweist den Einzelnen darauf, ein Meinen und Begehren Anderer wahrzunehmen und dies beim eigenen Tun zu berücksichtigen. Auch für die einfache Kommunikation gilt das, um so mehr für jedes Entwerfen, das ein „soll sein“ enthält. So unbedingt der Einzelne auch im Gegenwärtigen steht, das Kommende umschlingt ihn, nicht weniger als das Vergangene und Bedingende. Um sich zu entfalten, ja überhaupt zu leben, müssen Menschen das Kommende betrachten. Zu Beginn des Bandes bestimmt ein Beitrag von Nico Graack die gegebene Grundlage solchen Betrachtens mit Überlegungen zum Verhältnis von praktischer und spekulativer Vernunft im Hinblick auf eine mögliche Einheit – ein Projekt, das schon Kant selbst als Aufgabe formuliert hatte. Vor diesem Hintergrund verstehen sich die beiden folgenden Beiträge; zunächst der Bericht von Stefan Waanders über sein Erleben in Prag, das ihm unwillkürlich im Zeitgenössischen das Vergangene aufbrechen ließ und ihm Selbstprüfung bedeutete, ihn zu Selbstverpflichtung führte und zur Forderung, entschieden für ein neues gemeinsames Verstehen von Europa einzutreten. Ihm tritt Donald Loose zur Seite, der angesichts der konkreten gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten die Fragwürdigkeit des Europa derzeit bestimmenden Verstehens von Identität herausstellt. Bérénice Palaric belichtet entscheidende Phasen der darin maßgeblichen humanistischen Tradition im deutschen Bereich in zwei beispielhaften Haltungen. Unabhängig von ihren zeitbedingten Implikationen vermitteln sie Maximen, die auch für eine Weiterentwicklung des europäischen Wertegefüges bedeutsam sind. Dieser Selbstvergewisserung unter Rückgriff auf die prägenden Aspekte der Tradition muss, wie Johanna Hueck erläutert, als ebenso notwendig, ein Nachdenken darüber zur Seite treten, welcher Art ein Denken sein müsste, das sich in den ‚Horizonten des Suchens‘ fruchtbar bewegen kann. Es wird, um die mittlerweile in sich weitgehend abgeschlossenen Wissenssysteme in ein Gespräch mit einer offenen Gesellschaft zu führen, ein ‚nicht-spezialisiertes Denken‘ sein müssen. Dabei müssen freilich, so legt Fabian Warislohner dar, Aspekte des Moralischen wesentlich berücksichtigt werden – und zwar mit einer breit gelagerten zukunftsgerichteten Phantasie, um die Dynamiken der von uns angestoßenen Prozesse einbeziehen zu können. Diese – unter Rückgriff auf Günther Anders – vor allem im Hinblick auf die technische Seite behandelten Aufgaben ergänzt Martin Bunte mit seinen Gedanken zu einer notwendigen ethischen Selbstbesinnung im Natürlich-Lebensweltlichen. Im Anschluss an Kant müssen die Erfahrungen der unabdingbaren Einbettung des Menschen in die Natur verbunden werden mit dem menschenbezogenen Vernunftbegriff. Philipp Höfele umreißt die notwendig anzuerkennende Verschränktheit des menschlichen Tuns hinsichtlich des Technischen und Natürlichen im Einzelnen. Daraus folgt die Forderung an den Menschen, zurückzutreten, sich zurückzunehmen, das ihn Umgebende anzuerkennen und darauf zu ‚hören‘, was nichts anderes bedeutet, als ein In-Frage-Stellen der Ausrichtung aller Natur auf den Menschen. Demgegenüber – aber doch in entsprechendem Sinne – betrachtet Hans Friesen die aufgegebene Neubesinnung des Menschen im sozial-kulturellen Bereich. Gerade auch in der weltumspannenden Mediengesellschaft stellt sich die Aufgabe, das genuin ‚Menschliche‘, eigentlich Menschlich-Natürliche, neu zu durchdenken, soll nicht der Mensch selbst verloren gehen. Das meint, dass die technischen und medialen Instrumentarien der Vorstellung im Wechselspiel von Fiktion und Realität im Hinblick auf eine Wahrung des Menschlichen in seinen vielen, mitunter widersprüchlichen Regungen in den Blick genommen werden müssen, dies freilich im Sinne einer Einbettung des je besonderen Menschen in das ihn Umgebende des Lebens.

Wolfgang Christian Schneider