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Band 14/1 – 2023

Kosmopolitismus

herausgegen von

Wolfgang Christian Schneider

und Kirstin Zeyer

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Der Gedanke der Kosmopolitie in der Antike
    und sein Fortwirken bei Wieland
    Wolfgang Christian Schneider
  • Kosmopolitismus: Herder im kritischen Diskurs
    mit Rousseau und Wieland
    Tilman Borsche
  • Denken für das Fremde. Der Kosmopolitismus
    von Wieland und Kant
    Ri SUGA
  • Goethes Kosmopolitismus
    Harald Schwaetzer
  • Der „poëtische Staat“ und die „Weltrepublik“. Zur Konzeption
    des frühromantischen Kosmopolitismus
    Yu TAKAHASHI
  • Die Idee der „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ im Zeitalter
    der „Weltliteratur“. Zu einer Denkfigur des literarischen
    Kosmopolitismus im 19. Jahrhundert
    Takahiro NISHIO
  • Hannah Arendt und der Kosmopolitismus:
    Grenzen und Möglichkeiten
    Yotetsu TONAKI

Buchbesprechungen

  • Alanus ab Insulis und das europäische Mittelalter. Hg. v. Frank
    Bezner / Beate Kellner. Unter Mitarbeit von M. Butz /
    A. Urban. Paderborn 2022
    Harald Schwaetzer
  • Hueck, Johanna: Aktive Passivität. Krisis und Selbsttransformation
    der Subjektivität im Denken F.W.J. Schellings. Beiträge
    zur Schelling-Forschung (Band 13). Freiburg 2022
    Nadja Görz
  • Charles de Bovelles, philosophe et pédagogue. Suivi de l‘ Opuscule
    métaphysique de Charles de Bovelles (1504). Sous la direction
    de Anne-Hélène Klinger-Dollé et Emmanuel Faye. Paris 2021
    Harald Schwaetzer

Vorschau auf das kommende Heft

Die Autoren

Vorwort

KOSMOPOLITISMUS

Immer mehr Erscheinungen lassen die weltweiten Verflechtungen und Wechselwirkungen gesellschaftlicher und politischer Geschehnisse, wirtschaftlicher und natürlicher Prozesse spürbar werden. Das macht eine Neubewertung des Bezugsrahmens, in dem das menschliche Handeln sich versteht, notwendig. Damit rückt die Frage in den Blick, inwiefern der Einzelne über seine lokalen, regionalen oder nationalen Bezüge hinaus auch durch einen globalen Bezug, eine weltumspannende Verantwortung bestimmt ist und sein sollte. In einer solchen Neubesinnung kommt dem Begriff des Kosmopolitischen eine tragende Rolle zu, dem dieser Band der Coincidentia gewidmet ist. Die Beiträge gehen auf zwei örtlich weit auseinanderliegende, inhaltlich gleichwohl verschwisterte Veranstaltungen in Deutschland und Japan im Jahre 2021 zurück: einerseits auf eine Vorlesungsreihe zum „Kosmopolitismus“ an der Hochschule in Biberach, der Geburtsstadt des Philosophen und Dichters Christoph Martin Wieland, der als Vorkämpfer des Gedankens der Kosmopolitie in der Aufklärungszeit gelten kann; andererseits auf das Symposium „Kosmopolitische Narrative“ der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. Freundschaftliche wissenschaftliche Beziehungen ermöglichte nun ein Zusammenwirken, eine gemeinschaftliche Veröffentlichung der wichtigsten Beiträge beider Veranstaltungen zum Kosmopolitismus. Eröffnet wird die Folge mit einem Blick auf die Antike, in der der Begriff der Kosmopolitie wurzelt. Es ist die philosophische Reflexion über die Vergesellschaftung in den Stadtgemeinden des frühklassischen Griechenland, die dem ausschließlichen Bezug auf die je eigene Stadtgemeinde einen der Gesamtheit des Lebens verpflichteten Bezug entgegenstellt: einen Bezug zum Kosmos. Dieses Denken bleibt, wie W. Ch. Schneider darlegt, wirksam und wird selbst im politischen Handeln aufgegriffen. Aus diesen literarisch ermittelten Impulsen entwickelt Wieland in der Zeit der Aufklärung seine Auffassung eines ethisch begründeten Kosmopolitismus, den er in literarischen Werken und in politisch-gesellschaftlichen Schriften vorstellt. Weitere, in die menschliche Bildung und insbesondere die nun thematisierte staatspolitische Bildung hineinreichende Anstöße tragen Rousseau und Herder bei, wie T. Borsche herausarbeitet, wobei das Kosmopolitische in eine Spannung zum Patriotischen gerät. Dem folgt R. Suga, die den unzweifelhaft ebenso philosophischen wie politischen Gehalt von Wielands Dichtung in seinem inneren Zusammenhang mit dem kosmopolitischen Denken Kants erläutert und von da aus die weiteren Entwicklungen skizziert. Des politischen Gehalts bewusst lenkt H. Schwaetzer den Blick auf das letztlich tragende Ganze, den das Verstehen herausfordernden Kosmos, in dem jedes Handeln steht, es trägt und verpflichtet. Eine vertiefte Erfassung des Politischen im Kosmopolitischen weist Y. Takahashi an Hand der Auseinandersetzungen der Frühromantiker mit Kant auf. Das Poetisch-Ästhetische gilt den Romantikern als unmittelbar politisch und verbindet sich daher mit dem Staatsbürgerlichen. Vielleicht ist sogar die Wende zum religiösen bei mehreren der Frühromantiker nicht so sehr als das Ende des Kosmopolitischen zu verstehen, sondern als dessen Verschiebung in das Geistige. Mit T. Nishio richtet sich der Blick in das 19. Jh., vor allem auf das ‚Junge Deutschland‘ und Berthold Auerbach, er behandelt die Frage einer ‚kosmopolitisch‘ aufgefassten ‚Weltliteratur‘ beispielhaft im Hinblick darauf, welcher Stellenwert dem je besonderen Literarischen im Rahmen von „Einheit in der Vielheit“ zukommen kann – eine Frage, die noch immer von Bedeutung ist. Daran knüpft Y. Tonaki an, der für die Judenheit in Europa zu Ende des 19. Jh. und im frühen 20.Jh., jüdischen Selbstaussagen folgend, eine kosmopolitische Phase beschreibt, in der die geistig und literarisch Tätigen sich fruchtbar zwischen den nationalen Kulturen und Literaturen, also gleichsam kosmopolitisch, bewegen konnten, gerade weil sie keinen nationalen Bezug hatten. Das beendeten die antisemitischen Aktionen, was Hannah Arendt dazu führt, beständig das Zeitgeschichtliche begleitend, für die Judenheit einen Ort zu suchen, eine jüdische Identität zu entwickeln, die jenseits des Religiös-Nationalen stünde und Kosmopolitisches wahrte. Von seiner Geschichte her muss Kosmopolitismus – und jede Berufung darauf – immer ethisch gegründet sein.

Wolfgang Christian Schneider

 

 


Band 13/2 – 2022

Spuren im Dazwischen

Teitelseite Cioncidentia 13-2022-2

herausgegeben von

Wolfgang Christian Schneider

und Kirstin Zeyer

 

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Anaxagoras oder Das unendliche Dazwischen
    Claus-Artur Scheier
  • Aer und Pneuma im Weltganzen und im Menschen.
    Das Fortleben der griechischen Naturphilosophie bei
    Hippokratikern und stoa-nahen Medizinern
    Wolfgang Christian Schneider
  • Das mystische Nichtwissen als Schule des Denkens
    Inigo Bocken
  • Auflösung des Theodizeeproblems durch den Pantheismus?
    Kritische Betrachtung von Norbert Hoersters
    neu vorgelegter Konzeption
    Dagan Jakovljević
  • Das Absolute in der Reflexion
    Martin Bunte„Die Natur allein ist das wahre Gegengift der Abstraktion“:
    Schellings Naturphilosophie als Kritik an
    wirklichkeitsfremder ‚Schwärmerei‘
    Andrés Quero-Sánchez
  • Cornelis Verhoeven (1928-2001): ein unzeitgemäßer
    Meister aus Brabant
    Joop Berding
  • Geschriebene und gezeichnete Blicke.
    Die text-bild-künstlerischen „Bildmappen“ von
    Christoph Meckel
    Adela Sophia Sabban

Buchbesprechungen

  • Heinrich Theodor Grütter / Rosa Schmitt-Neubauer / Christoph
    Schurian / Johannes Stüttgen / Joachim Weber / Carla Zimmer-
    mann (Hg.): Die Unsichtbare Skulptur. Der Erweiterte Kunstbegriff
    nach Joseph Beuys. Katalog zur Ausstellung im UNESCO-Welterbe
    Zollverein, Essen 2021. Köln 2021
    Stephan Stockmar
  • Alf Christophersen: Die Kunst des Unsichtbaren. Ethik – Beuys –
    Ästhetik. München 2021
    Stephan Stockmar
  • Paulus Ricius: Schriften zur christlichen Kabbala. Band I. Sal foederis
    (1507 / 1511 / 1514 / 1541), Clavis Philosophiae 11,1. Kritisch hg.
    und übersetzt von Frank Böhling. Mit einer Einleitung versehen von
    Frank Böhling und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Stuttgart-Bad
    Cannstatt 2022
    Wolfgang Christian Schneider
  • Johann Valentin Andreae: Civis Christianus, sive Peregrini quondam
    errantis restitutiones (1619). Bearbeitet, übersetzt und kommentiert
    von Frank Böhling. Mit einer Einleitung von Wilhelm Schmidt-
    Biggemann. Johann Valentin Andreae: Gesammelte Schriften. Hg.
    von Frank Böhling / Bernd Roling / Wilhelm Schmidt-Biggemann.
    Band 12. Stuttgart-Bad Cannstatt 2022
    Harald Schwaetzer
  • Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Darlegung des wahren Ver-
    hältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichte’schen Lehre.
    Ueber das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur. Kleinere
    Schriften (1806-1807). Hg. v. Ives Radrizziani. Akademie-Ausgabe
    I.16,1. Stuttgart – Bad Canstatt 2022
    Harald Schwaetzer
  • Susanne Möbuß: Neue Überlegungen zur Existenzphilosophie.
    Anschlüsse an Barth, Jaspers und Heidegger. Basel 2021
    Johanna Hueck

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

SPUREN IM DAZWISCHEN

Umringt sind wir von Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten, Doppelgesichtigkeiten, zugleich in vielfältiger Weise von einem „Teils – Teils“, „Sowohl als auch“, „So und doch auch Anders“; wir stehen in Spannungsräumen, in Widersprüchen, suchend nach einem hinlänglich Festhaltbaren, das uns klarer Begriff werden könnte. Dabei spüren und erfahren wir doch immer, wie viel wir auch auf der jeweils anderen Seite leben, von dort her sind. So öffnet sich uns ein Dazwischen, das wir anerkennen sollten, weil es Wichtiges wahrt, zu erkennen gibt. In diesem Band versammeln sich Beiträge, die auf die je eigene Weise vom Dazwischen sprechen. Am Anfang erläutert C.-A. Scheier das Bemühen von Anaxagoras, die unendlich-vielen Seienden in ihrer Verschiedenheit als einander durchdringend, aneinander partizipierend zu beschreiben, was ihn letztlich zur Konzeption einer aktualen Unendlichkeit führt. Vor ihr kommt dann das Einzelne in den Blick, der Mensch ebenso wie das Handgreiflich-Brauchbare, das den Menschen umgibt. W.Ch. Schneider blickt dann darauf, wie die von der frühen Naturphilosophie angenommene das Weltganze durchziehende ‚Luft‘ (aēr), später als ‚Pneuma‘ verstanden, als fortdauernd auch das Einzelne durchziehend gedacht wird. Das gibt
der Medizin Anlass, die Wege von Luft und Pneuma im Inneren des Menschen zu verfolgen, der wesentlich dadurch am Weltganzen teilhat, womit, in stoischer Sicht, das Ganze im Einzelnen wirklich wird. Das Dazwischen im Spekulativ-Theologischen verfolgt I. Bocken, er sieht das mystische Nichtwissen als Schule des Denkens, wofür beispielhaft Cusanus und de Certeau aufgerufen werden. Im eigenen Nichtwissen und in der Unerreichbarkeit des Gegenübers tritt überbrückend die Wechselseitigkeit hervor. Das unerfüllte Verlangen nach dem Ungreifbar-Göttlichen stellt sich für den Betrachtenden als Wechselseitigkeit dar, in dem der ‚Sehnsüchtige‘ eine Art von Wissen erfährt, wofür er den Raum offen halten möchte. Einem geradezu klassischen Problem des Dazwischen widmet sich D. Jakovljević, der eine unlängst vorgetragene pantheistisch-atheistische Lösung der Theodizee-Frage als fragwürdig nachweist. Bei diesem Vorschlag bleibt das Problem bestehen, es wird lediglich verschoben. Gleichsam komplementär dazu erörtert M. Bunte den Spannungsraum zwischen dem Absoluten als dem unendlichen Grund und dem Menschen als endliches Vernunftwesen mit seiner Reflexion. Das einzelne Bewusstsein, das eigene Ich, wird in dieser Sicht als Erscheinung des Absoluten, also des rein aus sich Seienden vorgestellt. Die Wahrheit des Absoluten ist dabei die der Differenz und Identität seines In-sich-Seins und seiner Erscheinung als sein Aus-sich-Sein. Im Anschluss daran behandelt A. Quero-Sánchez das bei Schelling bestehende Spannungsverhältnis zwischen mystisch-spekulativen Traditionen und einer Naturphilosophie, die von beseelter Materie bestimmt ist, von woher auch Individualität und Existenz zu denken ist. Der reife und authentische Einzelne ist demgemäß (im Gegensatz zu dem wiederholt angesprochenen „Schwärmer“) dadurch gekennzeichnet, dass er nach dem Gesetz seiner Identität, kraft der Notwendigkeit seines Wesens handelt. Die Linie der Individualität zieht J. Berding bei seiner Vorstellung der auf die Praxis zielenden Philosophie Verhoevens aus, wenn er die „Selbstgestaltung“ des Einzelnen als deren Mittelpunkt beschreibt. Damit wendet er sich gegen die eingerasteten Selbstverständlichkeiten im Geistigen und Religiösen sowie die Nutzungsansprüche der Gesellschaft an die Heranwachsenden. Zuletzt verfolgt A. S. Sabban das Dazwischen als Ineinander von Sprechen im Text und Formen im Bildlichen in den bildtextlichen Gestaltungen des Dichters und Zeichners Christoph Meckel. In ihnen erspielt sich der kreativ Schaffende seine Wirklichkeit, sein Leben, vor und mit dem ihn Umgebenden – und vergegenwärtigt sich so dem Wahrnehmenden. Gerade das Dazwischen, offen und bewußt angenommen, ist fruchtbar, es erweist zunächst geschieden erscheinende Sinn- oder Erlebenszusammenhänge als gleicherweise tragend und so weiterführend, gibt zuletzt auch im Einzelnen Unerwartetes, Neues zu erkennen.

Wolfgang Christian Schneider

 

 


 

Band 13/1 – 2022

Blicke ins Kommende

herausgegeben von
Wolfgang Christian Schneider
und Kirstin Zeyer

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Die Absicht der Vernunft.
    Der Gebrauch von Begriffen in praktischer Absicht bei Kant
    Nico Graack
  • Begegnungen in Prag.
    Auf der Suche nach der großen Erzählung von Europa
    Stefan Waanders
  • Staatsbürgerschaft der Zukunft.
    Identität als Faktizität und Aufgabe
    Donald Loose
  • Ernst Robert Curtius (1886-1956): Ein Erbe der ‚Kultursynthese
    des Europäismus‘ von Ernst Troeltsch (1865-1923)?
    Bérénice Palaric
  • Zwiegespräch im Ich.
    Die Bedeutung des nicht-spezialisierten Denkens
    Johanna Hueck
  • Die Beweinung der Zukunft?
    Günther Anders’ Moralische Phantasie im Anthropozän
    Fabian Warislohner
  • Versuch eines bioethischen Imperativs.
    Das Leben als Aufgabe und Grenze praktischer Vernunft
    Martin Bunte
  • Die Stille der Natur: Das Ambivalente Wechselverhältnis
    von Natur, Mensch und Technik im Anthropozän
    Philipp Höfele
  • Schweifende Dichotomien in der weltumspannenden
    Mediengesellschaft. Die kulturellen Formate auf der
    Grenze zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion
    Hans Friesen

Buchbesprechungen

  • Corinna Schubert: Masken denken – in Masken denken:
    Figur und Fiktion bei Friedrich Nietzsche. Bielefeld 2020
    Osman Choque-Aliaga
  • Nils Höppner / Klaus Feldmann (Hg.): Wie über Natur reden?
    Philosophische Zugänge zum Naturverständnis im
    21. Jahrhundert. Freiburg 2020
    Fabian Warislohner
  • Umezu, Tokihiko: Symbole als Wegweiser in Franz Schuberts
    „Winterreise“. Aus dem Japanischen übersetzt von Erika
    Herzog. Regensburg 2019
    Peter Dellbrügger

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

BLICKE INS KOMMENDE

Umstellt sind wir von Zukünften, trägt doch jede Gegenwart in sich die Wurzeln alles Kommenden, das im Jetzt schon steckt. Selbst in den konkreten kleinen Vollzügen im Alltäglichen geschieht immer auch Zukunft: In Bejahung und Widerspruch, in Fortentwicklung und Verkürzung, Abweichung und Verschiebungen entwickelt und gestaltet der Mensch sein je besonderes Dafürhalten hinsichtlich eines Fortkommens – antwortend auf Wollen und Vorhaben im ihn Umgebenden. Jedes Mit- und Zueinander verweist den Einzelnen darauf, ein Meinen und Begehren Anderer wahrzunehmen und dies beim eigenen Tun zu berücksichtigen. Auch für die einfache Kommunikation gilt das, um so mehr für jedes Entwerfen, das ein „soll sein“ enthält. So unbedingt der Einzelne auch im Gegenwärtigen steht, das Kommende umschlingt ihn, nicht weniger als das Vergangene und Bedingende. Um sich zu entfalten, ja überhaupt zu leben, müssen Menschen das Kommende betrachten. Zu Beginn des Bandes bestimmt ein Beitrag von Nico Graack die gegebene Grundlage solchen Betrachtens mit Überlegungen zum Verhältnis von praktischer und spekulativer Vernunft im Hinblick auf eine mögliche Einheit – ein Projekt, das schon Kant selbst als Aufgabe formuliert hatte. Vor diesem Hintergrund verstehen sich die beiden folgenden Beiträge; zunächst der Bericht von Stefan Waanders über sein Erleben in Prag, das ihm unwillkürlich im Zeitgenössischen das Vergangene aufbrechen ließ und ihm Selbstprüfung bedeutete, ihn zu Selbstverpflichtung führte und zur Forderung, entschieden für ein neues gemeinsames Verstehen von Europa einzutreten. Ihm tritt Donald Loose zur Seite, der angesichts der konkreten gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten die Fragwürdigkeit des Europa derzeit bestimmenden Verstehens von Identität herausstellt. Bérénice Palaric belichtet entscheidende Phasen der darin maßgeblichen humanistischen Tradition im deutschen Bereich in zwei beispielhaften Haltungen. Unabhängig von ihren zeitbedingten Implikationen vermitteln sie Maximen, die auch für eine Weiterentwicklung des europäischen Wertegefüges bedeutsam sind. Dieser Selbstvergewisserung unter Rückgriff auf die prägenden Aspekte der Tradition muss, wie Johanna Hueck erläutert, als ebenso notwendig, ein Nachdenken darüber zur Seite treten, welcher Art ein Denken sein müsste, das sich in den ‚Horizonten des Suchens‘ fruchtbar bewegen kann. Es wird, um die mittlerweile in sich weitgehend abgeschlossenen Wissenssysteme in ein Gespräch mit einer offenen Gesellschaft zu führen, ein ‚nicht-spezialisiertes Denken‘ sein müssen. Dabei müssen freilich, so legt Fabian Warislohner dar, Aspekte des Moralischen wesentlich berücksichtigt werden – und zwar mit einer breit gelagerten zukunftsgerichteten Phantasie, um die Dynamiken der von uns angestoßenen Prozesse einbeziehen zu können. Diese – unter Rückgriff auf Günther Anders – vor allem im Hinblick auf die technische Seite behandelten Aufgaben ergänzt Martin Bunte mit seinen Gedanken zu einer notwendigen ethischen Selbstbesinnung im Natürlich-Lebensweltlichen. Im Anschluss an Kant müssen die Erfahrungen der unabdingbaren Einbettung des Menschen in die Natur verbunden werden mit dem menschenbezogenen Vernunftbegriff. Philipp Höfele umreißt die notwendig anzuerkennende Verschränktheit des menschlichen Tuns hinsichtlich des Technischen und Natürlichen im Einzelnen. Daraus folgt die Forderung an den Menschen, zurückzutreten, sich zurückzunehmen, das ihn Umgebende anzuerkennen und darauf zu ‚hören‘, was nichts anderes bedeutet, als ein In-Frage-Stellen der Ausrichtung aller Natur auf den Menschen. Demgegenüber – aber doch in entsprechendem Sinne – betrachtet Hans Friesen die aufgegebene Neubesinnung des Menschen im sozial-kulturellen Bereich. Gerade auch in der weltumspannenden Mediengesellschaft stellt sich die Aufgabe, das genuin ‚Menschliche‘, eigentlich Menschlich-Natürliche, neu zu durchdenken, soll nicht der Mensch selbst verloren gehen. Das meint, dass die technischen und medialen Instrumentarien der Vorstellung im Wechselspiel von Fiktion und Realität im Hinblick auf eine Wahrung des Menschlichen in seinen vielen, mitunter widersprüchlichen Regungen in den Blick genommen werden müssen, dies freilich im Sinne einer Einbettung des je besonderen Menschen in das ihn Umgebende des Lebens.

Wolfgang Christian Schneider

 


 

Band 12/2 – 2021

Linien des Geistes

herausgegeben von
Wolfgang Christian Schneider
und Kirstin Zeyer

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • A Created God: the Anthropology of the Image in
    Gregory of Nyssa and Meister Eckhart
    Francisco Bastitta Harriet
  • Licht und Dunkel.
    Cusanische und cartesische Sehtheorie im Vergleich
    Kirstin Zeyer
  • Henologie und Geistmetaphysik.
    Zu einer strukturellen Gemeinsamkeit in der Plotin-Rezeption
    George Berkeleys und G.W.F. Hegels
    Jan Kerkmann
  • Stumme Worte – Oder über das Schweigen bei Hegel
    Max Maureira
  • Die Struktur der Reflexion im § 1 von Fichtes Grundlage (1794)
    Claus-Artur Scheier
  • Das hyperbolische Selbst.
    Pathos und Response bei Kierkegaard und Nietzsche
    Jan Juhani Steinmann
  • Jan Romeins geschichtstheoretisches Denken in
    Benjamin Breeks philosophischer Beurteilung
    Coban Menkveld

Buchbesprechungen

  • Mario Meliadò: Sapienza peripatetica. Eimerico da Campo
    e i per-corsi del tardo albertismo. Münster 2018
    Greta Venturelli
  • Uwe Plath: Castellios Selbstverständnis in seiner
    Auseinandersetzung mit Calvin. Basel 2021
    Wolfgang Christian Schneider
  • Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische
    Ausgabe / Reihe I: Werke. Band 14: ‚Vorlesungen über die
    Methode des academischen Studium‘, ‚Philosophie und
    Religion‘ und andere Texte (1803-1805). Herausgegeben von
    Patrick Leistner und Alexander Schubach. Stuttgart 2021
    Harald Schwaetzer
  • Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische
    Ausgabe / Reihe II: Nachlaß. Band II,10,1-3: Initia Philosophiae
    Universae. Erlanger Vorlesungen WS 1820/21. Herausgegeben
    von Alexander Bilda, Anna-Lena Müller-Bergen und Philipp
    Schwab. Unter Mitarbeit von Philipp Höfele, Petr Rezvykh,
    Simone Sartori und Sören Wulf. 3 Bände. Stuttgart 2020
    Harald Schwaetzer
  • Christian Niemeyer: Nietzsches Syphilis – und die
    der Anderen. Freiburg / München 2020
    Osman Choque-Aliaga
  • Héla Hecker: Berührbarkeit als conditio humana. Emotionale
    Phänomene in Hannah Arendts politischem Denken. Praktiken
    der Subjektivierung 24. Bielefeld 2021
    Fabian Warislohner
  • Werner Stegmaier: Formen philosophischer Schriften zur
    Einführung. Hamburg
    Inken Tegtmeyer
  • Dirk Hartmann: Neues System der philosophischen
    Wissenschaften im Grundriss. Bd. 1-7; Bd. 3: Physik,
    Chemie, Kosmologie. Paderborn 2022
    Kirstin Zeyer

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

LINIEN DES GEISTES

Jedes Denken formt sich in Kommunikation, gerade auch in der Kommunikation über die Zeiten hinweg. In Widerspruch und Bejahung, in Fortentwicklung und Verkürzung, Abweichung, Verschiebung und Umwandlung werden Verbindungen und Anschlüsse gefunden, wird das je Eigene immer erneut erarbeitet. Es entsteht so ein Geflecht geistiger Linien, die unauslösbar auch Teil des jeweils Besonderen sind, was auf das Vorangegangene wie das Kommende ein neues Licht wirft. Diese vielfältigen Denkbeziehungen sucht der vorliegende Band der Coincidentia in Beispielen nachzuzeichnen. Am Beginn steht eine Spurensuche nach der unmittelbare Abbildlichkeit des Menschen vom Göttlichen bei Gregor von Nyssa und Meister Eckhart von F. B. Harriet. Damit ist mittelbar schon ein entscheidender Autor aufgerufen, Plotin. Denn Gregor von Nyssa wie sein Bruder Basilius waren von ihrer Großmutter Makrina gebildet worden, die ihrerseits – über Gregor den Wundertäter – Enkelschülerin von Origenes war, wodurch die wesentlich von Ammonios und Plotin repräsentierte geistige Welt Alexandrias mit dem konkretisierenden Ausfließen aus dem Einen bei den Kappadokiern zur Geltung kam. Wenngleich scheinbar verdeckt, bleibt diese konstituierende Abbildhaftigkeit im Weiteren gegenwärtig. Auch im cusanischen ego sum, quia tu me respicis und im cogito, ergo sum von Descartes ist es enthalten, wie K. Zeyer erhellt, dann aber auch in den Gedanken Beider zum Licht, das auch von Plotin wiederholt zur Charakterisierung des Ausstrahlens aus dem Einen aufgerufen wird. In dem mit diesen beiden Namen aufgewiesenen Spannungsraum bewegt sich auch J. Kerkmann mit seinen Ausführungen zur Plotin-Rezeption George
Berkeleys und G.W.F. Hegels. Beide gehen grundsätzlich von der Entfaltung des Einen aus, bringen diese jedoch in verschiedene Zusammenhänge. Berkeley sieht sie mit Überlegungen zum Sehen und einem Bemühen um Erkenntnis zusammen, das – trotz Unerkennbarkeit, Seinstranszendenz und Bestimmungslosigkeit – von einem sich entfaltenden Göttlichen getragen ist, was am Ende zu einem esse est percipi führt; Hegel begreift den Entfaltungsvorgang als eine durch das Denken verfügte Dreiheit von unbestimmter Einheit, selbstbezüglicher Zusammengehörigkeit von Denkendem und Gedachten und konkreter Totalität intelligibler Prädikate. Von daher kann, wie M. Maureira darlegt, das Schweigen bei Hegel, als Sprache, aus Zeichen, Vorstellungen sowie den Verbindungen unter ihnen, wie in zweiter Existenz hervortreten. Da nichts außerhalb von Sprache bleibt, ergibt sich ihre Einheit auch in den Fragmenten und Aspekten des Schweigens. Grundmoment dieser Deutung des Schweigens bei Hegel ist die entscheidende Stellung des vorstellenden Ich als produktive Einbildungskraft, die bei Kant angelegt war, dann durch Fichte ausgefaltet wurde. Diese paradox sich im Augenblick anschauende Reflexion, diese originäre Anschauung ist Gefühl, das Gefühl originärer Anschauung, wie C.-A. Scheier in seiner Deutung der Wissenschaftslehre Fichtes darlegt. Von Kant ausgehend, aber das „einzige Faktum der reinen Vernunft“, konkret als Handlung und als Willen und daher als synthetisch auffassend, kommt er zu einem „Ruck im Prinzip“: zu einer umfassenderen Deutung des Ich. Mit dem Begreifen der Vereinzelung des Ich in seinem Erleben und Handeln ist dann auch das gesteigerte Selbst bei Kierkegaard und Nietzsche verstehbar, wie J. J. Steinmann zeigt, das sich bei beiden als zunächst beklemmendes, dann besinnendes und schließlich bestimmendes Antworten auf ein pathetisch wahrgenommenes Bedrängtsein ergibt. Der Band schließt mit C. Menkvelds Darstellung von B. Breeks philosophischer Beurteilung der geschichtstheoretischen Ansätze J. Romeins, der von theologischen – täuferisch akzentuierten – Anfängen über die produktive Auseinandersetzung mit Max Weber und Toynbee zu marxistischen und technikoptimistischen Positionen gelangte; der frühere religiöse körperschaftliche Bezug ist so zu einem sozial-technoeschatologischen Bezug hin verschoben. In beispielhaften Blicken zeigen die Beiträge das fortdauernde ‚lange Gespräch‘ über die Zeiten hinweg, das – auch scheinbar überholte Haltungen und Bewertungen einschließend – bis in das Heutige reicht und als solches notwendig ist, so zum gegenwärtigen Leben beiträgt.

Wolfgang Christian Schneider

 

 


 

Band 12/1 – 2021

Universität zu denken,
zu konzipieren

herausgegeben von
Wolfgang Christian Schneider
und Kirstin Zeyer

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Gutachten zur Predigerausbildung
    im Herzogtum Weimar von 1797
    Johann Gottfried Herder
  • Predigerausbildung an der Universität?
    Gutachten des Generalsuperintendenten von Weimar,
    Johann Gottfried Herder (1797)
    Tilman Borsche
  • Über das akademische StudiumJohan Vilhelm Snellman
  • Die Schrift „Über das akademische Studium” von
    Johan Vilhelm Snellman – Eine Einführung
    Hans Peter Neureuter
  • Deducirter Plan zu Vorträgen über die Hodegetik, und zu
    einem damit zu verbindenden hodegetischen Leseverein
    Karl Hermann Scheidler
  • Karl Hermann Scheidler (1795-1866):
    Streiter für die Hodegetik
    Kirstin Zeyer
  • Die Aufgaben der Universitäts-Philosophie
    Johannes Maria Verweyen
  • Verweyens existentiell-ethische Neuverortung
    der akademischen Philosophie (1910)
    Wolfgang Christian Schneider
  • Die Errichtung von Lehrstühlen für Ethik und Religions-
    philosophie an den jüdisch-theologischen Lehranstalten
    Hermann Cohen
  • Hermann Cohens Plädoyer für
    Die Errichtung von Lehrstühlen fur Ethik und Religionsphilosophie
    an den jüdisch-theologischen Lehranstalten
    Susanne Möbuß
  • Probleme der Durchführung des studium generale
    Georg Picht
  • Pichts Idee eines „studium generale” und seine
    Kritik an der Universität der Nachkriegszeit
    Niklas Hoyme
  • Vom gegenwärtigen Zerfall der Snellman’schen
    Universitätsidee in Finnland
    Ewald Reuter
  • Nachruf: Prof. Dr. Lothar Graf zu Dohna (1924 – 2021)
    Wolfgang Christian Schneider

Buchbesprechungen

  • Christoph Hammann: Katharsis in Kaiserzeit und Spätantike.
    Vorstellungen von Reinigung in Medizin, platonischer Philosophie
    und christlicher Theologie des 2. bis 4. Iahrhunderts n. Chr.
    Göttingen 2020
    Harald Schwaetzer
  • Hans Gerhard Senger: Nikolaus von Kues. Leben – Lehre –
    Wirkungsgeschichte. Heidelberg 2017
    Kirstin Zeyer
  • Danz, Christian (Hg.): Schellings Gottheiten von Samothrake
    im Kontext. Göttingen 2021
    Harald Schwaetzer
  • ]akob Frohschammer: Ausgewählte Vorlesungshandschriften zur
    Philosophie- und Theologiegeschichte. Nachgelassene Schriften
    Band 3. Mit textkritischem Apparat sowie Namen- und Sachregister.
    Editorisch bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Raimund
    Lachner. Tübingen 2020
    Harald Schwaetzer
  • Hermann Cohen: Briefe an August Stadler. Herausgegeben von
    Hartwig Wiedebach. Basel 2015
    Kirstin Zeyer

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

UNIVERSITÄT ZU DENKEN, ZU KONZIPIEREN

Das Bemühen um Bildung begleitet jede menschliche Gesellschaft. Für die höhere Bildung besaß Europa seit dem 11. ]h. einen besonderen Ort in den Universitäten. Notwendig ist es freilich immer, diesen Bildungsort mit den Gegebenheiten in der jeweils zeitgenössischen Gesellschaft in Einklang zu bringen: die hohen Schulen sind daher unumgänglich einer beständigen Reform unterworfen. Eine beispielhafte Rückschau darauf, die manche Anregung enthält, bietet der vorliegende Band der Coincidentia. Er bringt einige wichtige Originaltexte, gekoppelt mit situierenden Erläuterungen. Am Beginn steht ]ohann Gottfried Herder mit seinen Reformvorschlägen für die Universität ]ena 1797, erläutert von Tilman Borsche. Herder reiíšt gleichsam die Problematik von Hochschulbildung in der Spätaufklärung auf, spricht auch von Aspekten der akademischen Freiheit, und weist so den Weg auf, den dann Humboldt in der Breite öffnet. Darauf folgen zwei Impulse aus der Zeit um 1830/1840: zunächst ein – erstmals übersetzter – Text von dem finnischen Reformer ]ohan Vilhelm Snellman, in den Hans Peter Neureuter einführt. Er erklärt die für Snellman konstitutive Verbindung von nationaler Selbstfindung und einem Streben nach individueller sittlich bestimmter Selbstverantwortung des Einzelnen, das unbedingt eine freie Entfaltung will. Diese beiden Texte werden von einem gleichzeitigen Text aus Deutschland sekundiert: einem reformerisch-hochschuldidaktischen Entwurf von Karl Hermann Scheidler, den Kirstin Zeyer verortet und deutet. Scheidler lehrte an der Universität ]ena und stieíš dort – unter dem Stichwort der Hodegetik – Reformen im Hochschulunterricht an, bei denen er an Herder anschloss. Zusätzlich achtet er auf konkrete lebensnahe Hilfen für die Studierenden. Darauf folgt ein Autoren-Paar, das um 1900 Fragen der Reform und Neuorientierung im Hochschulbereich thematisiert: ]ohannes Maria Verweyen, der an der Universität Bonn lehrte, mit einem Text von 1910, in dem er eine auch gesellschaftspolitisch engagierte, den geistigen Erfordernissen seiner Zeit entsprechende Lehre im Bereich der Philosophie fordert, deren Bedeutung Wolfgang Christian Schneider darlegt. Neben ihn tritt ein Text von Hermann Cohen vom ]ahre 1904, den Susanne Möbuß erläutert; er stellt die Notwendigkeit einer eigenständigen akademischen Bildungseinrichtung für das Judentum heraus. Mit beiden Texten wird die Lage der Universität um 1900 in den Blick genommen, vor dem Ersten Weltkrieg, in einer Zeit, die durch verkrustete Tendenzen, aber auch durch reformerische Ansätze bestimmt ist. Die Lage nach den autoritären Eingriffen der nationalsozialistischen Machthaber, denen – oft allzu bereitwillig hingenommen – viele zum Opfer fielen (etwa auch J.M.Verweyen), vertritt ein Text von Georg Picht. In einem bislang unveröffentlichten Vortrag von 1950 verlangt er einen Neuansatz und wirbt für ein allgemein orientierendes „studium generale” an den Universitäten, was Niklas Hoyme im Einzelnen nachzeichnet. Der Rückgriff auf reformpädagogische Ansätze der Iahrhundertwende zielt einerseits darauf, die noch immer gegebenen obrigkeitlichen Strukturen und die durch die NS-Hörigkeit bewirkten Schädigungen zu beseitigen, will andererseits die Universität im Zuge einer Erneuerung der akademischen Freiheit zu einer ganzheitlich verantworteten freien Kreativität hinführen. Dies trug wesentlich zu der in den 1960er ]ahren einsetzenden Reform an den Hochschulen bei. Den Abschluß dieser Reihe exemplarischer Blicke auf die Universität bildet ein Bericht von Ewald Reuter über die gegenwärtige Lage der Universität in Finnland, der zugleich beispielhaft für die derzeitigen Gegebenheiten an den europäischen Hochschulen insgesamt stehen kann. In Finnland, wie im übrigen Europa, ist an die Stelle eines Bemühens um Bildung, die seit Herder und Humboldt immer wesentlich auch Selbstbildung meinte, weithin eine Ausbildungsbetriebsamkeit getreten, die sich an Bedürfnissen und Fertigungsvorgängen der Wirtschaft orientiert. Das persönliche Reifen ist in den Hintergrund gedrängt, die eigene Kreativität, das neue, erneuernde Fragen, wird durch einzwängende überdichte Studienordnungen erschwert, ja verhindert.

Zu den Originaltexten sei angemerkt, dass jeweils zwischen Schrägstrichen die Seitenangaben der Vorlage geboten werden. Die vielen Sperrungen wurden jedoch nicht übernommen

Wolfgang Christian Schneider