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Band 11/2 – 2020

AnthropologieTitelseite der Coincidentia, Band 11 Heft 2, 2020; Anthropologie im Spätmittelalter im Spätidealismus

herausgegeben von Wolfgang Christian Schneider

 

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • „Das Tiefste muss gerade das Klarste sein“ –
    Philosophie und Sprache beim mittleren Schelling
    Johanna Hueck
  • Leben und Vernunft.
    Troxlers Biosophie im Lichte der Spätphilosophie Kants
    Martin Bunte
  • Ich, Seele und Natur.
    Das Entfaltungsdenken in ‚Psyche‘ von Carl Gustav Carus
    Wolfgang Christian Schneider
  • Phantasie des Geistes.
    Zu Jakob Frohschammers Anthropologie
    Harald Schwaetzer
  • Verleiblichte Fortdauer der Seele. Immanuel Hermann Fichtes
    idealrealistischer Begriff der Unsterblichkeit
    Cristián Hernández Maturana
  • Die Einheit von Ich und Ding an sich im reinen Denken.
    Paul Asmus’ Erkenntnistheorie im Kontext des frühen
    Neukantianismus
    Sophie Asam
  • Gideon Spicker: „Auf die Natur des Menschen zurück!“
    Geschichte und Entwicklung als zentrale Motive für eine
    philosophische Anthropologie
    Kirstin Zeyer
  • Nishida Kitaros philosophische Auseinandersetzung
    mit dem Neukantianismus
    Kazuhiko Yamaki
  • Nachruf: Prof. Dr. Ulrich Hoyer (1938 – 2020)
    Kirstin Zeyer

Buchbesprechungen

  • Ryan Scheerlinck: Gedanken über die Religion. Der ‚stille
    Krieg‘ zwischen Schelling und Schleiermacher (1799-1907).
    Stuttgart – Bad Canstatt 2020
    Harald Schwaetzer
  • Dirk Hartmann: Neues System der philosophischen
    Wissenschaften im Grundriss. Bd. 1-7; Bd. 1: Erkenntnistheorie;
    Bd. 2: Mathematik und Naturwissenschaft. Paderborn 2021
    Kirstin Zeyer
  • Anton Hügli (Hg.): Jaspers. Stationen seines philosophischen
    Weges. Schwabe: Basel 2021
    Fabian Warislohner
  • Chiara O. Tommasi / Luciana Gabriela Soares Santoprete /
    Helmut Seng (Hg.): Hierarchie und Ritual. Zur philosophischen
    Spiritualität in der Spätantike. Heidelberg 2018
    Wolfgang Christian Schneider
  • Jochen Krautz: Kunstpädagogik. Eine systematische
    Einführung. Leiden / Bosten 2020
    Harald Schwaetzer
  • Adela Sophia Sabban: Goethes Werke in der Bilddeutung von
    Wilhelm Kaulbach und seinen Schülern. Die „Gallerie zu
    Goethe’s sämmtlichen Werken“ (1840-41). Marburg 2019
    Harald Schwaetzer

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

ANTHROPOLOGIE IM SPÄTIDEALISMUS

Die Denker der Mitte und der zweiten Hälfte des 19. Jhs., die an einer Entfaltung und Spezifizierung der idealistischen Konzepte der Jahre um 1800 arbeiteten, werden derzeit wenig beachtet, auch wenn sie die Gedankenwelt zu ihrer Zeit maßgeblich prägten und Spuren legten, die noch in das 20. Jh. hineinwirkten. Viele philosophische Stellungnahmen des späten 19. Jhs. lassen sich nur verstehen, wenn sie auf diese spätidealistischen Positionen rückbezogen werden. Doch auch zu den Fragen des 21. Jhs. vermögen diese Denker bedeutsame Gedankengänge beizutragen. Dies hatte den Anlass gegeben, eine Tagung zur „Anthropologie im Spätidealismus“ zu planen, die unter Federführung von Luis Mariano de la Maza (Pontificia Universidad Católica de Chile) im März 2020 in Santiago de Chile stattfinden sollte. Die vom Wuhan-Virus ausgelöste Pandemie führte zu deren Absage, der vorliegende Band der Coincidentia legt die erarbeiteten Vorträge vor, die die inhaltliche Breite dieses „Spätidealismus“ veranschaulichen. Den Ausgangspunkt bietet ein Beitrag zu Schelling (J. Hueck), da dieser auf lange Zeit hin Impulsgeber wie Widerpart war. Darin ist nicht nur das Wechselverhältnis von Denken und Sprechen bei Schelling erläutert, sondern auch das Moment der zeitlichen Entwicklung angesprochen, das ein wesentliches Motiv spätidealistischen Denkens ist. Mit dem folgenden Beitrag zu Troxler (M. Bunte) wird zugleich Kant aufgerufen, der als weitere zentrale Instanz des späten idealistischen Denkens gelten muss. Über Kant hinaus wird das Prozessuale des Lebens selbst in den Blick genommen und ein dynamisches, organisierend verstandenes Prinzip an den Anfang gestellt. Eine hierin verschwisterte Spur verfolgt Carus (W. Ch. Schneider), der neben Kant von Schelling ausgeht, dies aber mit einem ‚genetischen‘ Denken verschränkt, für das er sich auf die Metamorphose-Lehre von Goethe beruft. So gelangt er zu Beschreibung der Entfaltung des seelischen Lebens, von einem basalen „Unbewussten“ zu einem nach und nach Bewussten, das sich freilich in ein Umfassendes eingebettet weiß. Auch Frohschammer (H. Schwaetzer) setzt am Geistigen an, für ihn ist entscheidend die Phantasie, die Vernunft und Bildekraft zusammenführt, und der objektiven Entwicklung (als ‚objektive Phantasie‘) zugrunde liegt, aber auch die subjektive Vorstellungstätigkeit trägt, deren abstrahiertes und sublimiertes Ergebnis das abstrakte Denken ist. Die hohe Wertung des Seelischen führt dann I. H. Fichte (C. Hernández Maturana) zu der Frage nach der Wirklichkeitsform der Seele nach dem Tod. Er sieht eine Fortdauer der Organisationskraft und möchte daraus auf einen weiter bestehenden „pneumatischen Organismus“ schließen. Eine andere Denklinie zieht der wenig bekannte, früh verstorbene Paul Asmus aus (S. Asam). Von Kant und Hegel ausgehend leitet er über zur erkenntnistheoretischen Debatte im entstehenden Neukantianismus. Indem das Ich die lebendigen Begriffe und die ihnen immanenten Gesetzmäßigkeiten ‚nachdenkt‘, hat es zur Einheit mit dem Ding an sich gefunden. Die scheinbar unvereinbaren Momente werden so als Momente einer höheren – beide Momente in sich bergenden – Einheit erkennbar. Eine solche hohe Auffassung des Ich verbunden mit dem Geschichtlichen und den Entwicklungslehren Darwins führt Gideon Spicker (K. Zeyer) zu einer philosophischen Anthropologie, die in der Folge – im Ringen mit materialistischen und neukantianischen Ansätzen – wesentlich teleologische Momente aufnimmt. Einen Seitenstrang spätidealistischen Denkens vergegenwärtigt der Beitrag zu Nishida (K. Yamaki), der über einen seiner Lehrer in Tokio Ludwig Busse, einem Schüler von Rudolf Hermann Lotze, eine Beziehung zum Spätidealismus hatte, was durch Raphael von Koeber ein Gegengewicht erhalten hatte. Zusätzlich befasste sich Nishida mit dem Neukantianer Heinrich Rickert und fand so, unter Rückbezug auf die japanische Gedankenwelt, zu einem eigenständigen, wesentlich von der Erfahrung der ‚wahren Wirklichkeit‘ bestimmten existentiellen Ich-Begriff, gegenüber dem die stofflich-materielle Welt sich als etwas Gedachtes darstellt, der sich letztlich aber als in sich widersprüchlich erweist. Trotz vielfältiger Ausgestaltungen haben diese „spätidealistischen“ Gedanken doch eines gemein: das Ringen um ein sich entwickelndes Ich, das sich als geschichtlich bedingt und (selbst)produktiv versteht.

Wolfgang Christian Schneider

 

 


 

Band 11/1 – 2020

Sozialer Friede

herausgegeben von Wolfgang Christian Schneider

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
    Wolfgang Christian Schneider
  • Sozialer Friede – Cusanische Perspektiven.
    Aufriss für die 7. Kueser Gespräche
    Harald Schwaetzer
  • Die Bedeutung des Laien für den sozialen Frieden
    Kazuhiko Yamaki
  • Personaler und Sozialer Friede. Kulturgeschichtliche Blicke
    auf Friede und Unfriede und die Identität des Einzelnen
    Wolfgang Christian Schneider
  • Wege zum sozialen Frieden in friedlosen Zeiten.
    Michel de Montaigne, Essais III 13
    Tilman Borsche
  • Eine sanfte Brise. Sufismus im Sudan – der Ruf des Meisters
    Inigo Bocken
  • „Sie tragen die Geister auf offener Handfläche“. Friede
    („heping“) im frühest erhaltenen Laozi-Kommentar
    Chinas, Zhuang Zuns 莊遵 Laozi zhigui 老子指歸
    Hermann-Josef Röllicke
  • Karl Jaspers und Heinrich Barth als Zeitgeist-Diagnostiker –
    Soziale Unzufriedenheit als Anreiz für die Entstehung ihrer
    Existenzphilosophie
    Coban Menkveld
  • Paul Jostock: Soziallehre und Sozialreform als
    Grundlagen des sozialen Friedens
    Kirstin Zeyer
  • Die Krise des Liberalismus und der Niedergang
    der Sozialdemokratie
    Donald Loose
  • Zahl und sozialer Friede – Ein Versuch
    Gregor Nickel
  • Bedingtheit, menschliche Existenz und Bildung im Digitalen
    Fabian Warislohner
  • Der Mensch als Ziffer? Pädagogik vor der Digitalisierung
    Matthias Fechner

Buchbesprechungen

  • Donata Romizi: Dem wissenschaftlichen Determinismus auf
    der Spur. Von der klassischen Mechanik zur Quantenphysik.
    Freiburg / München 2019
    Harald Schwaetzer
  • Alfred Dunshirn: Aristoteles: Wegbereiter der Metaphysik.
    Reihe: Philosophie für unterwegs, Bd. 4. Halle a.d. Saale 2020
    Nicole C. Karafyllis
  • David Bartosch: „Wissendes Nichtwissen“ oder „Gutes Wissen“?
    Zum philosophischen Denken von Nicolaus Cusanus
    und Wang Yángmíng. Paderborn 2015
    Kirstin Zeyer
  • Brendan Theunissen: Hegels Phänomenologie als metaphilo-
    sophische Theorie. Hegel und das Problem der Vielfalt der
    philosophischen Theorien. Eine Studie zur systemexternen
    Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie des Geistes.
    Hegel-Studien, Beiheft 61. Hamburg 2014
    Michael Lewin
  • Christopher Arnold: Schellings frühe Paulus-Deutung. Die
    Entwicklung von F.W.J. Schellings Schriftinterpretation und
    Christentumstheorie im Zusammenhang der Tübinger
    Theologie seiner Studienzeit und der hermeneutischen
    Theoriebildung seit der Frühaufklärung.
    Schellingina 29. Stuttgart 2019
    Harald Schwaetzer
  • Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Werke 12: Schriften
    1802-1803. Hg. v. Paul Ziche / Vicki Müller-Lüneschloß.
    In zwei Teilbänden. Stuttgart 2019
    Harald Schwaetzer

Vorschau auf das kommende Heft

Zu den Autoren

Vorwort

SOZIALER FRIEDE

Die Vorstellung von Frieden wird meist vom Krieg her gedacht, als Abwesenheit von Krieg. Wie wenig das den Kern trifft, wird deutlich, sobald das Moment des (äußeren) Krieges zurücktritt. Dann ist zu spüren, dass der Friede im Inneren, die Art, wie die Menschen im Sinne eines ‚wir‘ zueinander stehen, das Entscheidende ist – zu spüren gerade in Zeiten erzwungener Abstandnahme zum Schutz des jeweils Anderen. So ist der „Soziale Friede“ das Thema der 7. Kueser Gespräche, für die der vorliegende Band Anstöße geben will. Einleitend erläutert H. Schwaetzer den Sozialen Frieden aus der Perspektive des großen Philosophen aus Kues. Friede, so bestimmt er den Zielraum, muss geübt werden, dabei ist Selbsterkenntnis verbunden mit Zuwendung und Wohlwollen, dem wachen und geduldigen Blick auf den Anderen als Teil eines zu wahrenden Ganzen das Wesentliche. K. Yamaki stellt im folgenden Beitrag heraus, dass für das Gelingen eines sozialen Friedens gerade dem Laien, also dem unbefangenen Blick aus dem allgemeinen Leben, große Bedeutung für angemessene Entscheidungen über unsere Fragen zukommt. Unter Hinweis auf frühe Dichtungen legt dann W. Ch. Schneider dar, welche Bedeutung die Verletzung des Personalen hat, das mit dem Sozialen innig verschränkt ist. Es ist die Ent-Ehrung, die Friedlosigkeit auslöst, auch den Kampf, um Frieden wieder zu gewinnen. T. Borsche erörtert die Möglichkeiten des Friedens anhand der Werke von Hobbes und Montaigne; während der erstgenannte soziale Ordnung und Friede ganz von der Herrschergewalt ableitet, sieht letzterer das der Gerechtigkeit verpflichtete erübte Tun des Einzelnen, je nach Maßgabe des Angemessenen, als bestimmend an. I. Bocken liefert dafür gleichsam einen Beleg in seinem Bericht über einen Besuch bei einem Sufi-Meister, der vermittelt, wie der Friede vom Innen her ausstrahlt. Wie bedeutsam der innere Friede im chinesischen Denken ist und wie sehr er mit dem äußeren verschränkt ist, erläutert H.-J. Röllicke anhand des frühesten Laozi-Kommentars. Das Sein des Herrschers gilt als unmittelbar wirksam, selbst ein friedvolles Handelnwollen bedeutete schon eine Störung der in sich bestehenden Friedensordnung. Die nachfolgenden Beiträge richten den Blick in die Moderne. C. Menkveld erörtert die Stellungnahmen von Jaspers und H. Barth zu sozialem Frieden und sozialer Unzufriedenheit. Für Jaspers steht das Dialogische im Mittelpunkt, wodurch er letztlich weniger vom Frieden als vielmehr vom Konflikt her denkt, in dessen kommunikativem Ausgleich Friede wie Wahrheit möglich wird. Barth geht von konkurrierenden Interessen aus, die durch Zugeständnisse und Kompromisse – nach der Maßgabe des Guten – einem ‚Gesamtinteresse‘ zuzuführen sind. Dem entspricht, wie K. Zeyer zeigt, weitgehend die Soziallehrenkonzeption P. Jostocks, der durch soziale Reformen Frieden ermöglichen will. D. Loose bestätigt dies von der Gegenseite her mit seiner kritischen Prüfung des konkreten Handelns von Liberalismus und Sozialdemokratie in der Neuzeit. Daran schließen sich zwei Beiträge an, die die wissenschaftlichen Grundlagen der Datenerfassung mit dem Ziel der Herstellung eines friedlichen Sozialraums veranschaulichen; G. Nickel erläutert die mathematischen Mittel, F. Wahrislohner die computertechnischen Probleme, denen unsere Gesellschaft gegenübersteht – beide zeigen sich hinsichtlich der Auswirkungen auf den Menschen und den sozialen Frieden, zumal hinsichtlich der Wahrung des Menschlichen, durchaus skeptisch. Der letzte Beitrag von M. Fechner zeichnet den Konflikt zwischen ‚mechanischer‘ und ‚organischer‘ Pädagogik in der Neuzeit nach, der auch die derzeit für das Schulwesen gepriesene Digitalisierung mit ihren mechanistischen Implikationen in Frage stellt. Die gewünschte in sich ruhende Persönlichkeit ist nur mit einem hinlänglichen Eingehen auf den Einzelnen zu erlangen, was am Ökonomischen ausgerichtete ‚mechanistische‘ Mittel ausschließt. Das bedeutet, dass die digitalen Instrumente in pädagogischen Zusammenhängen nur soweit zu nutzen sind, wie dabei das für einen sozialen Frieden unabdingbar Menschlich-Kreative, das Entscheidende bleibt. All diese Beiträge verstehen sich als Anstöße, den sozialen Frieden als leitend im Alltag zu denken und zu vollziehen.

Wolfgang Christian Schneider