Band 8/2 – 2017
Wissensdiskurse
herausgegeben von Wolfgang Christian Schneider
und Kirstin Zeyer
Inhaltsverzeichnis Buchbesprechungen Vorschau auf das kommende Heft Zu den Autoren Vorwort Wissensdiskurse Wissen ebenso wie Weisheit ist nichts Feststehendes, immer muss das eine wie das andere von Neuem erarbeitet werden, für einen veränderten Blick, den der Zeitverlauf mit sich bringt, geöffnet, ja sichtbar gemacht werden. Dabei wandeln sich oder zergehen die auf längere Zeit hin gültigen Sicherheiten, es verschiebt sich das, was als Tatsache gilt. Die vorliegende Coincidentia legt beispielhaft einige Beiträge vor, die diese Gegebenheit ausführlicher entfalten und so die unterschiedlichen, zeitgebundenen Sichten auf Wissen, Weisheit und Tatsachen grundlegend zu belichten vermögen. Bewusst den vorsokratischen Begriff des απειρον aufgreifend unternimmt der erste Beitrag von Renate Wahsner und Horst-Heino v. Borzeszkowski einen dichten Durchgang zu grundlegenden Haltungen gegenüber dem, was als Wirklichkeit gilt. Insbesondere kommt dabei Cusanus in den Blick mit seiner Auffassung, dass das Eigentliche, das unverfälscht Wirkliche nur das Ganze sein kann, das freilich nicht zu erfassen ist. Allerdings sind Näherungen, Anähnelungen an dieses grundlegend Entzogene möglich; über spezifisch modellierte Konzepte kann der Mensch sich von diesem ein Bild machen. Dem stehen das vorherrschende Selbstbild und die gängige gesellschaftliche Auffassung der Naturwissenschaften gegenüber, beide gehen von der Voraussetzung aus, dass Gegenstände dieser Wissenschaften die Naturgegenstände an sich seien, dass also die naturwissenschaftliche Sicht die von ihr in den Blick genommenen gegenständlichen Befunde unmittelbar, so wie sie an sich sind, erreicht. Im Anschluss an Cusanus und unter Rückgriff auf Überlegungen bis hin zu Kant, Hegel und Feuerbach wird nun beispielhaft bei Galilei nachgewiesen, dass notwendigerweise „ideale Gegenstände“ in der Wissenschaft anzunehmen sind: Sie erst machen die für die Naturwissenschaften unerlässlichen Beobachtungen möglich. In der spezifischen Formung der „idealen Gegenstände“ dringt freilich unvermeidbar ein zeitliches Moment in die scheinbar ‚rein sachliche‘ naturwissenschaftliche Beobachtung ein, und so ist konkret mit zeitbedingten Verstehensschemata zu rechnen. Auch die naturwissenschaftliche Datenaufnahme entkommt somit nicht der Relativität des Wissens, sie erreicht kein empiristisch ‚Feststehendes‘, sie ist angewiesen auf „ideale Gegenstände“, um Ordnungsbezüge im απειρον, im Ganzen zu gewinnen. Diese Darlegungen führt der folgende Beitrag von Michael Lewin auf eine gewisse Weise fort – sofern man sich klar macht, dass Nietzsches Ablehnung des Deutschen Idealismus nicht wirklich die erörterten „idealen Gegenstände“ berührt, sind doch diese keineswegs mit einer höheren ‚Geistigkeit‘ verbunden, sondern mit dem Verstehensprozess. So gesehen bietet Nietzsche mit dem von Lewin rekonstruierten psychologischen Skeptizismus keinen Gegenentwurf zum ostulat der „idealen Gegenstände“, sondern vertieft lediglich deren Quellgrund in das Psychische und Interpersonelle. Giorgis Fotopoulos‘ Überlegungen zum „Drama des Denkens“ vermag das zu ergänzen mit seinen Suchbewegungen zu Modalität und Vollzug der Denkvorgänge im Inneren des Menschen, den im Fortschreiten, Fortwirken des Denkens zusammentretenden Formen von „Bild-Klang“ und „Klang-Bild“. Auch hier sieht sich der Mensch vor ein nicht faßbares Ganzes gestellt, erneut also das απειρον, und erlebt sich angesichts dessen als „Untersuchender“ und zugleich „Untersuchter“, vor einem Enden, das hinzunehmen, ja anzunehmen ist und so erst lebt. Im Aufsatz Ludwig Lehnens erfährt die Frage nach zeitspezifischen Sichten und Wissensmodi eine poetologische Wendung: Er beschreibt für Mallarmé eine „dichterische Transposition“, in der das „Ich“, analog zum Ding, aufhört, um seinetwillen da zu sein, und dem schließt sich George an, mit aller damit verbundenen Härte. Das meint nicht, den Menschen schlicht in ein schaudervolles Nichts zu entlassen oder das Gesehene pseudoreligiös zu verbrämen, sondern zielt vielmehr darauf, für den Menschen eine Eigenkraft zu beschreiben, seine Schöpferkraft aufzurühren: in die Pflicht zu nehmen. Beider Dichtung sucht das Eigenpotential der Wortmagie darzustellen und zu entfalten, fordert ein sich Stellen in das verantwortete Wort, angesichts eines Grundlosen. Wolfgang Christian Schneider herausgegeben von Kirstin Zeyer und Inhaltsverzeichnis Buchbesprechungen Vorschau auf das kommende Heft Zu den Autoren Vorwort IM HAUS DER WEISHEIT Nach 25 Jahren hingebungsvoller Tätigkeit zog sich Anna Reuter, die Kustodin des Cusanus-Geburtshauses, im Jahre 2015 in das Privatleben zurück. Das Institut für Philosophie der Cusanus Hochschule und die Kueser Akademie nahmen das zum Anlass, im Herbst 2015 ihr zu Ehren eine internationale Tagung auszurichten: „Sapientia aedificvit sibi domum. Eine Philosophie des Ortes bei Nikolaus von Kues“. Der vorliegende Band der Coincidentia versammelt damalige Vorträge zur ‚Ankunft‘ der Weisheit, ergänzt durch Aufsätze, die das vom Cusanus-Geburtshaus ausgehende geistige Leben veranschaulichen. Am Anfang steht – nach einer Würdigung Anna Reuters durch Kirstin Zeyer – der Beitrag von Kazuhiko Yamaki, der das Wechselverhältnis von Ortsbindungen und Reisen des Cusanus betrachtet. Im Erleben des darin aufbrechenden Abgründigen sieht Yamaki den Keim des Concordantia-Gedankens und zugleich die ‚absolute Gegenwart‘ des Cusanus, die mit Deutungen Nishidas zu vergleichen ist. Daran schließt Gianluca Cuozzo an mit seinen Überlegungen zum ‚mystisch-utopischen Raum‘, die einen Bogen von Cusanus über Leonardo und Giordano Bruno bis hin zu Walter Benjamin aufspannen. Demgegenüber erörtert Wolfgang Christian Schneider einen konkreten Ort, den Cusanus besucht und erlebt hat: das ‚Haus der Heiligen Weisheit‘ in Ostrom. Die für Cusanus‘ Zeit belegte eikona des Pantokrators im Kuppelrund der Hagia Sophia wird als auslösend für die Darlegungen in De visione Dei erschlossen. Michael Eckert stellt eine andere cusanische Schrift in den Mittelpunkt seines Beitrags: das Globusspiel. Im Nachgang zu Gadamer und Wittgenstein sucht er die metaphysische Spielidee herauszuarbeiten und das Spiel auf sein Lebens-, d.h. Wahrheitsverhältnis hin zu befragen. Matthias Vollet skizziert die konjekturalen Zugriffe mit Hilfe deren Nikolaus in seinen Werken in immer neuen Anläufen die Erkenntnismöglichkeit zu fassen sucht. Ganz im Sinne des Raumdenkens des Rinascimento nutzt Nicolaus bei deren Figurierung bevorzugt das Räumliche, sei es mit Blick auf die Bewegung des Denkens oder die mental-abstrakte Strukturiertheit der Erkenntnis, sei es in der konkreten Verortung der philosophischen Szene. Coban Menkveld behandelt danach die Schrift De pace fidei und würdigt – gegen Karl Jaspers – Cusanus‘ Ansatz, die Religionen wesentlich im Hinblick auf die Vermittlung von ‚Wesensseite‘ und ‚Erscheinungsseite‘, ‚Einheit‘ und ‚Vielheit‘ zu betrachten, die – über das Trinitarische – allein in der christlichen Religion angesprochen wird. Wenn im Anschluss daran Enrico Peroli die neuplatonische Linie in Cusanus‘ Denken verfolgt, so greift auch er auf De pace fidei zurück. Die Suche nach der una religio stellt sich ihm als Verlangen nach Vereinigung hin zum Göttlichen dar. Christian Ströbele setzt diese Linie fort, wenn er sich der Frage der Unmittelbarkeit oder Vermitteltheit beim Erleben des Göttlichen zuwendet. In Kenntnis von Eckhart aber auch im Gegensatz zu ihm, der eine Unmittelbarkeit für möglich hält, sieht Cusanus mit seinem abstrakten Raumdenken das Erleben des Göttlichen im Sinne eines Strebensvollzugs: als unabschließbare Annäherungsbewegung. Andrea Fiamma erörtert das von Falckenberg unter neukantianischen Blickwinkel gesehene Vorläufertum des Cusanus für Positionen der ‚Moderne‘. Wesentlich dafür ist vor allem die cusanische Erkenntnislehre. In deren einzelnen Aspekten sieht Falckenberg virtuell Grundansätze ‚moderner‘ Philosophien, etwa der Leibniz‘ oder des deutschen Idealismus vorgezeichnet. Isabelle Mandrella bietet einen Überblick über theologisch-philosophische Lehren der weiblichen Laienphilosophie, in denen Frauen der ihnen seinerzeit nicht zugänglichen universitären Wissenschaft geistige Weisheitslehren entgegenstellen. Sie finden einen spezifischen ‚Ort‘, der mit besonderen Begleiterscheinungen, Ausdrucksweisen des Sprechens, und Vermittlungsformen des Erkannten verbunden ist. Am Schluss berichtet Cecilia Rusconi über zwei reisende „Cusanus-Bibliotheken“: die des Kardinals, die aus Rom nach Kues gelangte, und die des Cusanus-Forschers und langjährigen Direktors des Cusanus-Instituts Klaus Reinhardt, die nun einen ‚Ort‘, ein ‚Haus der Weisheit‘, für die Cusanus-Forschung in Argentinien bildet. Wolfgang Christian Schneider herausgegeben von Wolfgang Ch. Schneider Inhaltsverzeichnis Buchbesprechungen Vorschau auf das kommende Heft Zu den Autoren Vorwort LITERATUR DENKEN Dichtung und Philosophie sind verschwistert, beide suchen auf je eigene Weise das menschliche Leben auf einen Sinnzusammenhang hin zu ordnen. Um so interessanter und notwendiger muss es sein, literarische Werke verschiedener Gattungen auf ihren geistigen oder auch philosophischen Gehalt hin zu betrachten. Darauf zielt dieser Band der Coincidentia. Einleitend beleuchtet in diesem Sinne der Beitrag von Werner Greve die Tragödie Ödipus des Sophokles. Er erkennt darin einen grundlegenden Wandel in der Personenauffassung, eine Neubewertung menschlicher Beziehungen, die nun wesentlich vom konkreten Tun ausgeht, und den Ansatz zu einer veränderten Gottesauffassung in der hellenischen Poliswelt, zugleich das Problem der Ursachenerforschung bzw. der Ursachenbestimmung anspricht. Es folgt ein Text von Martin Bunte zum Nachdenken Rousseaus über Sprache, der eine verantwortungsvolle Diskursivität, letztlich freilich nicht nur eine verbale und gefühlte, sondern auch eine visuell umgesetzte, als zentral für die von ihm geforderte gesellschaftliche Ordnung beschreibt. Claus-Artur Scheier führt diese beiden Stränge gleichsam weiter in einer Erörterung über die Auffassung der Tragödie von Schiller, die das von Rousseau verdächtigte Schauspiel als einen Modus von Wissen und Wissenserwerb erläutert: und zwar wesentlich über die Darstellung der Vollzüge der Affekte, also letztlich über Akte der praktischen Vernunft. Diese Linie, freilich mit einer Wendung zum Poetischen im engeren Sinne, setzt Johann Kreuzer mit Überlegungen zu Hölderlin fort, der ausgehend von Schiller über den Menschen nachdenkt, wie sich das „höhere Geschik“ der Wirklichkeit der Freiheit, in der wir uns über die „Nothdurft“ erheben, für den Menschen erhalten kann. Wesentliches Moment dafür ist es, eine Erinnerung zu haben, in der allein die Identität der Begeisterung, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der „göttliche Moment“ gegeben ist. Im Anschluss daran behandelt Bruno Pieger die Editionsarbeit Norberts von Hellingraths, der Hölderlins Spätwerk als ein Sinnganzes komponiert und darin zuletzt die Bedeutung der Versöhnung herausstellt. Die Frage des menschlichen Miteinanders erörtert dann Werner Stegmaier eingehend in der Gestalt der ‚Liebenswürdigkeit, die er in beispielhafter Weise im Werk Fontanes entwickelt sieht, und in „Irrungen, Wirrungen“ im Einzelnen als eine spezifische Ethik nachzeichnet. Wurde schon in diesem Beitrag Nietzsche wiederholt vergleichend aufgerufen, so wird er im Beitrag von Adela Sophia Sabban selbst Thema: in der Interpretation seines Gedichts „Am Gletscher“. In ihm tritt eine heroisch vermenschlichte Natur in die Erscheinung, während der Mensch in seiner Todesverfallenheit gezeigt wird, in deren Annahme allein sich der Mensch zu überschreiten vermag. Der menschlichen Existenz spürt der Darlegung von Donald Loose zufolge auch Milan Kundera in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ nach, der die grundlegende Ambivalenz und Vieldeutigkeit des Lebens bearbeitet. Dem lastenden Druck der staatssozialistischen Ordnung ist allein mit der Übernahme von menschlicher Verantwortung zu begegnen, worin wesentlich Freiheit liegt. Der Beitrag von Henrieke Stahl gilt dem bedeutenden tschuwaschich-russischen Dichter Gennadij Ajgi. Bestimmend für ihn ist ein spirituelles Suchen jenseits konfessioneller Bindungen, das durchweg mit dem Erleben von Landschaftlichem verschränkt ist. So gelangt er zu einem meditierenden Dichten, das sich im höheren Alter jedoch nach Erlebnissen der Gottverlassenheit zu einem Ringen um die menschliche Existenz und die eigene Person verdüstert. Mit dem letzten Beitrag weitet sich der Blick und richtet sich wenigstens in einem – freilich beispielhaften Fall – Ostasien zu. Hermann-Josef Röllicke erörtert ein berühmtes Gedicht des Dichters Wang Wei der Tang-Zeit. Ausgehend von einer Diskussion um die Übersetzung von „Wohnhaus im Bambus“ werden grundlegend die Eigenheiten der buddhistisch geprägten Weltsicht und Dichtung im China der Tang-Zeit erläutert. Von besonderer Bedeutung ist, dass der Dichter alles konkrete Subjektive ausblendet, um die einzelnen landschaftlichen Elemente in Erscheinung zu bringen. So tritt alles Menschlich-Absichtsvolle zurück zugunsten reiner Evidenz des Natürlich-Übermenschlichen. Sämtliche Beiträge des Bandes befragen somit die Stellung des menschlichen Subjekts. Wolfgang Christian Schneider herausgegeben von Martin Thomé Inhaltsverzeichnis Vorschau auf das kommende Heft Zu den Autoren Vorwort VERANTWORTUNG FÜR EUROPA Am 1. Juli 2016 finden in Bernkastel-Kues die 5. Kueser Gespräche statt. Wie jedes Mal werden die Gespräche im Vorfeld vorbereitet. Während die beiden letzten Male die entsprechenden Publikationen in den „Beiheften“ der Zeitschrift „Coincidentia“ erschienen, wird der Band, welcher das Themenfeld der 5. Kueser Gespräche erschließt, wie bereits bei den 2. Kueser Gesprächen als reguläres Heft der Zeitschrift vorgelegt. Wie immer zeichnet die „Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte“, jetzt zugleich Institut an der „Cusanus Hochschule“, für den Band verantwortlich. Das Thema „Gesellschaftliche Verantwortung für Europa?“ bedarf keiner Rechtfertigung. Bereits anlässlich der ersten Kueser Gespräche im Jahre 2008 hatte der damalige Hauptreferent und Vorsitzende des EU-Parlaments Hans-Gert Pöttering angemahnt, es sei notwendig, eine „staatenübergreifende Sozialethik“ für Europa oder doch zumindest für die europäische Union zu entwickeln. Heute ist diese Aufgabe aktueller denn je. Es ist offenkundig, dass die Existenz Europas von der konkreten Beantwortung dieser philosophischen und kulturellen Frage abhängig ist. – Auch wenn dieser Sachverhalt nicht immer klar gesehen wird. Wie immer greifen die Kueser Gespräche auf ihren Namensgeber zurück, um Anregungen für die Gegenwart zu sammeln. Nikolaus von Kues hat im vierten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts politisch und philosophisch unermüdlich für die Einheit Europas geworben. Es hat ihm von Seiten seiner Gegner den Spottnamen eines „Herkules des Papstes wider die Deutschen“ eingebracht; denn er hat es geschafft, dass die einzelnen Fürsten ihre Neutralität aufgaben und im Wiener Konkordat eine politische Neuordnung Europas zwischen Fürsten, Kaiser und Papst beschlossen werden konnte. In den Jahren zuvor hatte Nikolaus in entscheidender Funktion zu derjenigen Delegation gehört, welche nach Konstantinopel gereist war, um einen Ausgleich zwischen Ost- und Westkirche in die Wege zu leiten, der dann auch, obgleich nur von kurzer Dauer, zu einer Wiedervereinigung von Ost- und Westkirche führte. Nikolaus von Kues haben sich demnach ganz ähnliche Fragen gestellt wie diejenigen, vor denen wir gegenwärtig stehen. Damals wie heute bildete eine wesentliche Fragestellung, wie Verantwortung in Gemeinschaften, Nationen, Europa, kirchlichen oder allgemein weltanschaulichen Gruppierungen wahrgenommen wurde bzw. werden sollte und wie Verantwortungsgemeinschaften auf verschiedenen Ebenen sich zueinander in ein Verhältnis setzen und kooperieren könnten. In den diesjährigen Thesen, wiederum von Harald Schwaetzer vorgelegt, steht jedoch ein Aspekt im Vordergrund, der mit der Themenformulierung direkt angesprochen ist: „Gesellschaftliche Verantwortung für Europa?“ fragt nicht nach der Verantwortung, die „Europa“ hat, die beispielsweise in „Brüssel“ lokalisiert werden kann, sondern sie fragt umgekehrt ‚von unten‘ her danach, welche Verantwortung wir als Menschen, Bürger, Gemeinschaften dafür tragen, dass es Europa geben kann. Die weiteren Beiträge bilden unterschiedliche systematische Facetten zum Thema ab. Der Eingangsbeitrag von Kazuhiko Yamaki zur Katastrophe in Fukushima ist nur auf den ersten Blick für das Thema nicht einschlägig. Die Einführung der fraglichen Technik stammt aus Europa; der Umgang damit ist von europäischen Modalitäten geprägt; die Auswirkungen der Katastrophe reichen bis nach Europa. Zudem ist die Reflexion über die Katastrophe von Fukushima, gemeinsam mit den japanischen Kolleginnen und Kollegen, seit März 2011 ständiger Gegenstand der Auseinandersetzung an der „Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte“. Yamaki macht deutlich, wie sehr Politik und Staat in Japan ein gesellschaftliches Gefüge schaffen und erhalten, in dem ein adäquater Umgang mit der Katastrophe nicht möglich ist. Der Fall Fukushima zeigt Japan als ein Beispiel einer Demokratie, deren Mitglieder daran gehindert werden, gesellschaftliche Verantwortung so zu übernehmen, wie es für die Menschen, die Kultur und die Natur hilfreich wäre. Armin Owzar nähert sich der Frage nach Verantwortung für Europa von einer ebenfalls ungewohnten Seite. Er fragt nach dem Diskurs um die symbolische Darstellung Europas, vor allem nach der Europa-Flagge. Die Flagge ist einerseits visueller, einfacher Ausdruck, den alle verstehen, sie ist andererseits Hinweis und Symbol auf eine geistige Identität Europas. Von hier aus betrachtet, wird das Ringen um eine Deutungshoheit im Symbolischen (visuell oder klanglich oder …) zu einem wichtigen Fragefeld danach, wer wofür Verantwortung übernehmen möchte. Auf dieser Grundlage entwickelt Claus-Artur Scheier im Anschluss an Derrida neun Thesen zu Europa, die im Diskursraum europäischer Philosophiegeschichte entfaltet werden. Dazu gehört vor allem, dass die Einsicht in die Europäische Geistesgeschichte und die Offenheit Europas zwei Grundpfeiler sind, aus denen die Notwendigkeit entsteht, Fremderfahrung zu begegnen und sie zu integrieren – ganz im Sinne von Harald Schwaetzers Thesen im Anschluss an Cusanus, wobei bei Derrida diese Idee aus der Erfahrung der Differenz hervorgeht. Johann Kreuzer nimmt den Gedanken auf. Am Beispiel des Mittelalters macht er deutlich, dass „mittelalterlich“ als pejorative Beschreibung gegenwärtiger Zustände ein schwieriges Prädikat ist. Zwar dürfe man das Mittelalter wie jede Epoche nicht schön reden, aber von ihm her stammten doch für ein zeitgenössisches Europa wesentliche Grundlagen. Dies wird auf der einen Seite mit Blick auf die Idee von Bildung im Anschluss an Meister Eckhart und auf der anderen Seite anhand der Idee der Universität als Institution verdeutlicht. Zudem wird ersichtlich, dass die säkulare Rationalität, für die Europa steht, einen Erfahrungsanspruch und einen verantwortungsethischen Maßstab meint. Dieser Maßstab ist nicht voraussetzungslos: Europas Geschichte zeigt, von welchen Voraussetzungen er lebt. Nachdem Johann Kreuzer das „eigene Fremde“ in den Blick genommen hat und gezeigt hat, wie diese Differenz sich gerade dann aufhebt, wenn es ein Wissen um die Vergangenheit gibt, macht Karl-Heinz Brodbeck diese Denkfigur zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Mit Bezug auf Nikolaus von Kues und dessen Idee einer „coincidentia oppositorum“, aber auch auf buddhistische Philosophie argumentiert er dafür, dass die Relation Eigenes – Fremdes nur in dieser Relation, aber nicht außerhalb ihre Bedeutung hat. Ist das (vermeintlich) Fremde erkannt, so ist es kein Fremdes mehr. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Befestigung des Gegensatzes (ohne seine Überwindung) gesellschaftlich und global nicht zuletzt durch die Logik des Geldes betrieben wird. Ihr liegt die Idee eines „Eigenen“ im Gegensatz zu einem „Fremden“ konstitutiv zugrunde. Eine Einsicht in den philosophischen Grundgedanken des „non aliud“, des Nichts-anderes, um es mit Harald Schwaetzer in der Relationalität zu übersetzen, die dem Brodbeckschen Gedanken entspricht, macht Brodbeck zufolge eine grundlegende Reflexion des Wirtschaftsverständnisses unausweichlich – für ihn eine zentrale Aufgabe einer Verantwortung für Europa. Auch Erwin Dirscherl nimmt sich der cusanischen Figur des Ineinsfalls der Gegensätze an. Er weist darauf hin, wie wichtig und notwendig die Fähigkeit der Differenzierung ist – etwa in der Kunst, aber auch in jeder Form menschlichen bzw. gesellschaftlichen Zusammenlebens. Als Beispiel einer institutionellen Organisation wendet er sich der katholischen Kirche zu. Ziel seiner Überlegungen ist im Anschluss an Hartmut Rosa der Hinweis auf ein Zusammenspiel von Denken und Erspüren. Beides, Phänomenologie und Hermeneutik, sind Übungen, um unser Wahrnehmen und Denken so differenziert zu machen, dass sie sich im Urteilsakt wieder adäquat zusammenfügen können. Tilman Borsches Beitrag ist ein bemerkenswertes Experiment: Wir finden einen 2004 gehaltenen Vortrag und müssen konstatieren, dass er nach wie vor aktuell ist. An den entscheidenden Punkten: Geschichtsbild, europäisches Bewusstsein und politischer Wille, also an einer systematisch und historisch gleichermaßen kultivierten Bildungsidee von Europa ist nach wie vor in derselben Weise zu arbeiten – ein Gedanke, der nachdenklich stimmt und nochmals zurücklenkt auf die Ausgangsfrage: Gesellschaftliche Verantwortung für Europa? Allen Beiträgen zugrunde liegt ein fragendes Denken, welches sein Urteil aus tastendem Denken und erspürendem Wahrnehmen gewinnt und sich in fragendes Handeln wandelt, um zu erfassen, was es heißt: „Verantwortung hat man, aber man muss sie auch tragen können.“ Martin Thomé
Wolfgang Christian Schneider
idealer Gegenstände in der Wissenschaft
Renate Wahsner & Horst-Heino v. Borzeszkowski
Deutschen Idealismus
Michael Lewin
Giorgis Fotopoulos
Transposition als das geheime motifcommun
der Schriften des George-Kreises
Ludwig Lehnen
Hans Jonas. Philosophische Hauptwerke Band I/2.
Das Prinzip Verantwortung. Zweiter Teilband: Tragweite
und Aktualität einer Zukunftsethik. Hg. v. Dietrich Böhler /
Bernadette Herrmann. Freiburg u.a. 2017
Harald Schwaetzer
Bd. 1, hg. von Jürgen Nielsen-Sikora / John-Stewart Gordon.
Berlin 2017
Harald Schwaetzer
Bd. 92. Frankfurt am Main 2017
Fabian Ott
Philosophie und Kunst. Darmstadt 2014
Kirstin Zeyer
Hg., eingeleitet und übersetzt v. Elisabeth Hense. Mit einem
Beitrag von Michael Plattig. Schriften des Forschungsinstituts
der Deutschen Provinz der Karmeliten Bd. 2. Münster 2017
Kirstin Zeyer
Felderkundungen Laienspiritualität Bd. 5 (Beiträge der
Katholischen Akademie Schwerte und des Titus Brandsma
Instituut Nijmegen). Schwerte 2017
Claus F. Lücker
Jahrhundert. Hg. v. Claudia Willms. Berlin-Pankow 2017
Matthias Fechner
Band 8/1 – 2017
Im Haus der Weisheit
Wolfgang Ch. Schneider
Wolfgang Ch. Schneider
Kirstin Zeyer
bei Nikolaus von Kues
Kazuhiko Yamaki
eines Begriffs des Wohnens bei Cusanus
Gianluca Cuozzo
Schau in der Hagia Sophia in Konstantinopel
Wolfgang Christian Schneider
Reflexionen zum Globusspiel des Nikolaus von Kues
Michael Eckert
bei Nikolaus von Kues
Matthias Vollet
Cusanus‘ Gedankengang in De pace fidei
Coban Menkveld
Neoplatonic road to contemplation
Enrico Peroli
Gegenwart in der mystischen Theologie Eckharts von
Hochheim und Nikolaus‘ von Kues
Christian Ströbele
Nikolaus von Kues
Andrea Fiamma
Isabelle Mandrella
und ihre Bibliotheken
Cecilia Rusconi
Mynona im Gespräch mit Schelling, Husserl, Benjamin und
Derrida. Nordhausen 2012; Experiment Mensch. Friedlaender/
Mynona Brevier. Konzept & Schnitt: Detlef Thiel. Herrsching
2014; Friedlaender/Mynona und die Gestalttherapie. Das
Prinzip „Schöpferische Indifferenz“. Hg. v. Ludwig Frambach/
Detlef Thiel. Bergisch-Gladbach 2015
Kirstin Zeyer
und Willy Moog und ihr Wirken an den Technischen Hoch-
schulen in Hannover und Braunschweig. Mit einem Seitenblick
auf Schmalenbachs Leibniz. Hannover 2016
Wolfgang Christian Schneider
Kues. Hg. im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissen-
schaften von Hermann Hallauer und Erich Meuthen. Fortgeführt
von Johannes Helmrath und Thomas Woelki. Band II, 3. Hg. v.
Johannes Helmrath und Thomas Woelki. Hamburg 2017
Harald Schwaetzer
zwischen Literatur und Naturwissenschaft. Johann Wilhelm Ritter,
Gotthilf Heinrich Schubert, Henrik Steffens, Lorenz Oken.
Würzburg 2017
Johanna Hueck
Hg. v. Bernd Hennigsen u. Jan Steeger. Übers. v. Jan Steeger. Mit
einem Beitrag v. Johnny Kondrup. Freiburg / München 2016
Harald Schwaetzer
Band 7/2 – 2016
Literatur denken
und Kirstin Zeyer
Wolfgang Christian Schneider
über das Verhängnis
Werner Greve
Sprache in ihrer ethischen und ästhetischen Bedeutung
Martin Bunte
Claus-Artur Scheier
Hölderlins Rede von Gott
Johann Kreuzer
Hellingrath komponiert Hölderlins Spätwerk
Bruno Pieger
Werner Stegmaier
Nietzsches Gedicht „Am Gletscher“
Adela Sophia Sabban
Die Ambiguität der modernen Freiheit
Donald Loose
Henrieke Stahl
Wang Weis Gedicht „Wohnhaus im Bambus“
Hermann-Josef Röllicke
Kues. Hg. im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissen-
schaften von Hermann Hallauer und Erich Meuthen. Ergänzt
von Johannes Helmrath und Thomas Woelki. Hamburg 2012
Harald Schwaetzer
Descartes. Hg. von Sabrina Ebbersmeyer. Paderborn 2015. /
René Descartes. Der Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz.
Französisch-Deutsch. Hg. von Isabelle Wienand und Olivier
Ribordy. Hamburg 2015
Kirstin Zeyer
Thomas Kirchhoff et al. (Thomas Kirchhoff, Nicole C.
Karafyllis, Dirk Evers, Brigitte Falkenburg, Myriam Gerhard,
Gerald Hartung, Jürgen Hübner, Kristian Köchy, Ulrich
Krohs, Thomas Potthast, Otto Schäfer, Gregor Schiemann,
Magnus Schlette, Reinhard Schulz, Frank Vogelsang).
Tübingen 2017
Harald Schwaetzer
Biblioteca Nacional de Portugal, Lissabon
Thomas P. Brysch
Band 7/1 – 2016
Verantwortung für Europa
Martin Thomé
Thesen zu den 5. Kueser Gesprächen
Harald Schwaetzer
ein kurzer Bericht
Kazuhiko Yamaki
Armin Ozwar
Claus-Artur Scheier
Johann Kreuzer
Abhängigkeit ihres Gegensatzes
Karl-Heinz Brodbeck
Erwin Dirscherl
und Grenzen der Solidarität in und für Europa – revisited
Tilman Borsche