Band 15/2 – 2024
In
dividuum und Kosmos
herausgegen von
Kirstin Zeyer,
Harald Schwaetzer und Nadja Görz
Inhaltsverzeichnis Buchbesprechungen Vorschau auf das kommende Heft Die Autoren Vorwort INDIVIDUUM UND KOSMOS Ernst Cassirers Schrift Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) ist bekanntlich als der Versuch zu verstehen, der von Jacob Burckhardt unbestimmt gelassenen Rolle der Philosophie den ihr gebührenden Platz in der Kultur der Renaissance zuzuweisen. Diesen Platz sichert für Cassirer systematisch niemand anderes als Nicolaus Cusanus (1401-1464), dessen Lehre allein Hegels Forderung erfülle, einen „einfachen Brennpunkt“ darzustellen, in dem die verschiedenartigsten Strahlen sich sammeln, wie es einleitend in das erste Kapitel zu Cusanus heißt. Es stellt im Weiteren daher keine große Überraschung dar, dass Cassirers Aufmerksamkeit in Individuum und Kosmos hauptsächlich dem aus Kues stammenden Denker gilt. Cassirer hatte bereits im ersten Teil seiner 3 Bände umfassenden Studie zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit Cusanus in den Rang eines Begründers und Vorkämpfers der neueren Philosophie erhoben, nicht weil er nach Burckhardt’scher Typologie als ein ‚Mensch der Renaissance‘ zu greifen wäre, sondern im Gegenteil, weil er dem Überlieferten selbst, dem er sich zuwende, eine neue Form und Richtung weise. Im Spannungsfeld zwischen Individuum und Kosmos handelt es sich dabei vor allem um Cusanus’ symbolische Erforschung der Welt, die zugleich als Schlüssel für eine Philosophie der Kultur nach Ernst Cassirer angesehen werden kann, so die inhaltlich zugrunde liegende, zugespitzte These des Forschungsworkshops des Philosophischen Seminars e.V. (vom 14.-16. Juni 2024 in Freiberg) zu Individuum und Kosmos, über den im vorliegenden Heft Nadja Görz ausführlich berichtet. Die Cusanus-Rezeption Ernst Cassirers (1874-1945) im Allgemeinen sowie deren möglichen Einfluss auf Cassirers Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen im Besonderen analysiert Kirstin Zeyer in ihrem einführenden Überblick über die Schrift Individuum und Kosmos. Der Vielseitigkeit des cusanischen Denkens gehen die weiteren Beiträge nach. Wie Cassirer bereits eingangs betont, ist Cusanus ebenso spekulativer Theologe wie er spekulativer Mathematiker ist. Der Frage, ob Cassirer auch immer den beiden genannten Seiten gleichermaßen gerecht wird, geht Gregor Nickel im kritischen Blick auf die Vielschichtigkeit von Cassirers Unternehmen nach. Detailliert entwickelt wird von Martina Roesner die von Cassirer aufgegriffene Averroismusdebatte, die auf ihre Rolle bei der Frage nach der Individualität und Subjektivität überprüft wird. Auch Roesner legt wie Nickel hierbei ein besonderes Augenmerk auf das Handwerk Cassirers: Welche Perspektiven dominieren, welche Bezüge werden hergestellt oder vernachlässigt, was ist der Ertrag von Cassirers Erörterung? Besonders letztere Frage macht Harald Schwaetzer in seiner Untersuchung der Astrologie-Deutung Cassirers fruchtbar, indem er nach der Bedeutung die Astrologie für ein Verständnis des Zusammenhangs von cusanischer Aenigmatik und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen fragt. Im Anschluss an die einzelnen Themen, die das cusanische Denken bei Cassirer umspannt, stellt Wolfgang Christian Schneider die Frage nach dem Verhältnis von Cusanus und der italienischen Renaissance. Schneider fasst das symbolphilosophische Denken Cassirers als ein Strukturdenken auf, so dass er in Cassirers Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance einen Anlauf zu einer strukturalen Deutung der italienischen Geistesgeschichte um 1500 sieht. Sämtliche Beiträge gehen auf den Cassirer-Workshop in Freiberg zurück und verdanken sich damit Idee und Motivation, Cassirers Individuum und Kosmos einer erneuten Lektüre zu unterziehen. Kirstin Zeyer, Harald Schwaetzer, Nadja Görz herausgegen von Harald Schwaetzer und Kirstin Zeyer Inhaltsverzeichnis Buchbesprechungen Vorschau auf das kommende Heft Die Autoren Vorwort PHILOSOPHIE UND PSYCHOLOGIE Als „ἰδοῦσα τὴν ἀλήθειαν“, „die Wahrheit schauend“ beschreibt Platon die Seele im Phaidros (249b). Und er setzt wenig später hinzu (249e): „πᾶσα μὲν ἀνθρώπου ψυχὴ φύσει τεθέαται τὰ ὄντα“, „eine jede Seele des Menschen hat dem Wesen nach geschaut das Seiende“. Für Heinrich Barth ist diese Bestimmung der Seele grundlegend nicht nur für seine Platon-Deutung, sondern auch für seine spätere Existenzphilosophie, und zwar gerade aufgrund ihrer Geistbezogenheit.[1]
Barth verdankt diesen Blick auf Platon nicht zuletzt seiner ‚Doktormutter‘ Anna Tumarkin, die ebenfalls zu Platon und seiner Seelenlehre publiziert hat.[2] Wie Barth – sowohl im Platon-Buch, aber auch in den späteren systematischen Fragen einer transzendentalen Transzendenz – zielt auch Tumarkin auf eine Erörterung der unsterblichen Seele; denn sie ist es, welche Wahrheit und Sein schaut bzw. geschaut hat. Das „Philosophische Seminar“ (Freiberg a. N.) widmet sich in seiner Forschung nicht nur Heinrich Barth, sondern auch in einer Kooperation mit Ulrich Weger von der Universität Witten-Herdecke Anna Tumarkin. Die Schweizer Philosophin Anna Tumarkin hatte ab 1909 in Bern als erste Frau in Europa eine ordentliche Professur inne. Neben ihren Forschungsschwerpunkten in der Ästhetik und der Hermeneutik entwickelte sie in zwei einschlägigen Werken eine philosophische Psychologie, die eine grundlegende und kritische Methodenreflexion vornimmt und einen eigenständigen Ansatz verstehender Psychologie liefert. Diesem Ansatz hat sich am 5. und 6. Februar ein Forschungskolloquium gewidmet. Nicht zuletzt aus ihm stammt die Anregung zum vorliegenden Heft. Den Auftakt bildet ein Beitrag von Ulrich Weger, welcher die „Gretchenfrage“ nach Seele und Geist in der aktuellen Psychologie bedenkt. Was für Platon und Aristoteles grundlegende Bestimmungen der Seele waren, ist heute zu einer methodisch wie inhaltlich problematischen und wenig bedachten Frage geworden. Das liegt nicht zuletzt an dem Methodenstreit in der Psychologie um 1900. Harald Schwaetzer zeigt in seinem Beitrag, wie Anna Tumarkin in diesem Streit eine originelle Position vorgelegt hat, die nicht nur den antiken Vorstellungen Platons wie Aristoteles’ Anerkennung zu zollen, sondern auch mit Blick auf die „Gretchenfrage“ für die Gegenwart Tore zu öffnen vermag. Wie eine solche Psychologie als Philosophie in der Geschichte des Abendlandes verankert ist, zeigt die historische Rückbesinnung von Harald Walach. Seine Analyse zentraler Positionen des Mittelalters führt er systematisch weiter in die Zeit Brentanos. Damit ist mehr geleistet als ein bloßer Rekurs auf Brentano ‚und‘ Aristoteles oder Thomas – vielmehr ist konkret und mit Blick auf andere Positionen die historische Kontinuität einer philosophischen Psychologie, welche den Geist mitbedenkt, aufgewiesen, in der auch Tumarkins Ansatz am Ende sich verorten lässt. Einen Ausblick auf gegenwärtige Fragen geben Lisa-Alexandra Henke und Herbert Kalthoff. Dabei nehmen sie nicht nur die moderne Verfassung des Menschen in den Blick, sondern erweitern die Perspektive des Heftes auf Fragen einer Pathologie, die jenseits des medizinisch-pathologischen Feldes fraglos auch eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Ferner aufgenommen in das Heft wurde ein Beitrag von Dragan Jakovljević zum Kritischen Rationalismus, der abseits des Themenschwerpunkts zu Philosophie und Psychologie die unterschiedlichen Positionen von Hans Albert und Karl Popper zur Religion ergründet. Harald Schwaetzer und Kirstin Zeyer Fußnoten:
Kirstin Zeyer, Harald Schwaetzer, Nadja Görz
und Kosmos“. Bericht zum Forschungsworkshop des Philo-
sophischen Seminars e.V., vom 14.-16. Juni 2024 in Freiberg
– zur Einführung
Nadja Görz
symbolischen Formen. Ein Überblick
Kirstin Zeyer
Ein Seitenblick auf Ernst Cassirers Werk zur Philosophie der
Renaissance
Gregor Nickel
der Individualität und Subjektivität
Martina RoesnerErnst Cassirers Astrologie-Deutung
Harald Schwaetzer
Ernst Cassirers „Individuum und Kosmos in der Philosophie
der Renaissance“ (1927) als Anlauf zu einer strukturalen
Deutung der italienischen Geistesgeschichte um 1500
Wolfgang Christian Schneider
Bäbler / Heinz-Günther Nesselrath. Studies in Education and
Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterra-
nean and Its Environs 1. Tübingen 2018
Harald Schwaetzer
hardt / Illinca Tanaseanu-Döbler. Studies in Education and Reli-
gion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean
and Its Environs 2. Tübingen 2018
Harald Schwaetzer
und mit interpretierenden Essays versehen von Nicole Belayche /
Robbert M. van den Berg / Adrien Lecerf / Detlef Melsbach und
Jan Opsomer, hg. von Detlef Melsbach. Tübingen 2022
Harald Schwaetzer
Down-Syndrom. Erkenntnisse und Erkundungen der Biografie-
forschung. Stuttgart 2024
Sara Müller
Band 15/1 – 2024
Ph
ilosophie und Psychologie
Harald Schwaetzer und Kirstin Zeyer
Ulrich Weger
Anna Tumarkins Begründung der Psychologie
im Kontext ihrer Zeit
Harald Schwaetzer
Harald Walach
Lisa-Alexandra Henke und Herbert Kalthoff
Religionsinterpretation: Stellungnahmen der Klassiker, ihre
Schranken und möglichen interpretativen Erweiterungen
Dragan Jakovljević
Leben und Werk. Aus dem Italienischen übersetzt von
P. S. Castiglioni und A. Hilt. Hamburg 2023
Harald Schwaetzer
Psychologie und Ästhetik. Hg. v. Elisabeth Décultot / Alessandro
Nannini. Basel 2024
Harald Schwaetzer
Baldelli / Günther Bonheim. Historisch-kritische Gesamtausgabe.
I/17. Stuttgart – Bad Canstatt 2024
Harald Schwaetzer
bildenden Künste zu der Natur. Kleinere Schriften (1807-1814).
Hg. v. Vicky Müller-Lüneschloss. Akademie-Ausgabe I.16,2
Stuttgart – Bad Canstatt 2024
Harald Schwaetzer
Christoph Lewin und Reinhard Müller. München 2024
Wolfgang Christian Schneider
[1] Barth, Heinrich: Die Seele in der Philosophie Platons. Neu hg. v. H. Schwaetzer
u. K. Zeyer. Regensburg 2017.
[2] Tumarkin, Anna: Der Unsterblichkeitsgedanke in Platos Phädon. In: Rheini-
sches Museum für Philologie; N.F., LXXV (1926) 58-83.